Die Goldhaendlerin
Ohr.
Gretchen erwiderte ihre Umarmung ebenso heftig und begann zu weinen. »Es tut mir so Leid um deinen Vater und Samuel.
Ich schäme mich für meine Mitbürger, und ich werde für deine Toten beten und auch für dich und deine Geschwister. Geh mit Gott, Lea. Ich … Oh, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen!« Sie löste sich aus Leas Armen, trat einen Schritt zurück und nestelte ein Stück Papier aus ihrer Schürze.
»Hier ist euer Passierschein. Er besagt, dass ihr aus Sarningen ausgewiesen werdet, weil euer Bruder im Verdacht steht, unter einer ansteckenden Krankheit zu leiden. Wenn ihr diesen Pass vorweist, wird man euch gewiss in Ruhe ziehen lassen. Schließlich haben die Leute vor kaum etwas mehr Angst als vor einer Seuche.« Sie lachte spitzbübisch auf, obwohl ihr immer noch die Tränen über die Wangen liefen, reichte Lea das Papier und verschwand im Haus, bevor diese sich noch einmal bedanken konnte.
Rachel machte ein Gesicht, als wollte sie vor Ekel ausspeien.
»Nichts als wohlfeile Worte! Gretchen ist auch nicht besser als die anderen Christen.«
»Du bist ein undankbares Geschöpf! Ohne Gretchen wären wir schmutzigen Kerlen zum Opfer gefallen, die uns unsere Ehre und unser Leben genommen hätten.«
Rachel deutete auf Leas Männerhosen und warf den Kopf in den Nacken. »So ein hässliches, dürres Gestell wie dich würde nicht einmal ein Christ anrühren.«
Einen Augenblick später saß ihr Leas Hand im Gesicht. »Höre mir gut zu, kleine Schwester! Wir haben einen harten Weg vor uns, und wenn du lebend und unversehrt nach Hause kommen willst, dann nimm dich zusammen, und halte vor allen Dingen den Mund. Denk daran, Eliesers Leben und seine Sicherheit hängen ganz von uns beiden ab, genau wie das Wohlergehen unserer Leute in Hartenburg, denn ohne unseren Vater sind sie wie Lämmer ohne ihren Hirten.«
Rachel schnaubte und sah mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wie Lea die Holme packte und den Karren anschob.
»Dieser Hirte willst wohl du sein?«
Lea deutete mit dem Kinn auf den schlafenden Bruder. »Elieser ist jetzt das Oberhaupt unserer Familie, und wir sind es ihm schuldig, ihn lebend nach Hause zu bringen.«
Ohne weiter auf ihre Schwester zu achten, lenkte Lea das Gefährt auf die Gasse hinaus. Zu ihrem Glück hatte Peter Pfeiffer die Naben gut eingefettet, daher ging es leichter, als sie erwartet hatte. Die eisenbereiften Räder knirschten auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse und kündeten den Wächtern am Tor ihr Kommen schon von weitem an.
Ein vierschrötiger Kerl in hautengen, erdbraunen Hosen und einem grauen Wams unter dem stählernen Brustpanzer senkte seine Hellebarde. »Wer seid ihr, und wo wollt ihr hin?«
Es war einer der Männer, von denen Jakob ben Jehuda sich bei der Ankunft in Sarningen hatte erniedrigen lassen, und Lea musste ihren Rücken anspannen, um nicht in die gleiche kriecherische Pose zu fallen wie ihr Vater. Sie sagte sich noch einmal die Namen vor, die sie auf dem Passierschein gelesen hatte, und hielt dem Mann das Pergament hin. »Ich heiße Leopold und das ist meine Schwester Radegunde. Wir haben unseren Bruder Meinrad zu einem Sarninger Arzt gebracht. Der hat ihm einen Trunk gegeben und gesagt, wir müssten die Stadt sofort wieder verlassen, weil seine Krankheit ansteckend sein könnte.«
Es war fast lächerlich, zu sehen, wie hastig der Torwächter vor ihnen zurückwich. »Eine ansteckende Krankheit? Dann macht, dass ihr verschwindet!«
Er winkte ihnen mit der Hellebarde, schneller zu gehen, und wies seine Kameraden an, den Weg freizugeben. Dem Passierschein schenkte er keinen Blick. Das mochte an seiner Angst vor Krankheiten liegen, aber Lea vermutete, dass er wie die meisten Christen nicht lesen konnte. Sie hatte sich schon oft über die Unwissenheit der Nichtjuden gewundert. Sie selbst beherrschte nicht nur die hebräische Schrift, sondern auch die mit lateinischen Buchstaben geschriebene deutsche Sprache. Das hatte Samuel ihr wie so vieles andere hinter dem Rücken ihres Vaters beigebracht, und nun verliehen ihr die heimlich erworbenen Fertigkeiten einen unschätzbaren Vorteil.
Sie verabschiedete sich freundlich von den Torwächtern und schob den Karren aus der Stadt. Rachel hatte beim Anblick der Wächter ihre Abneigung gegen Leas Kleidung vergessen und sich an einen Ärmel des blaugrauen Wamses geklammert. Erst als das Tor ein ganzes Stück hinter ihnen zurücklag, ließ sie Lea los und atmete so heftig durch, als hätte sie die
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