Die Gordum-Verschwörung
Ledereinbände und Marginalien zu sehen. Er wurde nicht enttäuscht. Die Schätze, an denen sie vorübergingen, ließen sich nur erahnen. Immer wieder blieb Grevens Blick an einem der Buchrücken kleben, nicht etwa, weil ihm der Autor oder der Titel bekannt war, sondern nur, weil ihn das abgegriffene Leder und die goldenen Lettern reizten, das Buch herauszuziehen und aufzuschlagen. Doch seine Führerin duldete keinen Zwischenstopp, und Greven wollte sie in dem Labyrinth aus Wissen und Irrtümern nicht verlieren.
Endlich blieb sie vor einem der Metallregale stehen, ging in die Knie und fuhr mit dem Finger an den Signaturnummern der eingestellten Bände vorbei, hielt inne und wiederholte die Suche. Ihr Finger verharrte schließlich vor einer Lücke, die in Greven eine Vorahnung explodieren ließ.
„Das ist doch nicht möglich“, sagte die Bibliothekarin. „Der Band steht nicht an seinem Platz.“
„Könnte er ausgeliehen sein?“
„Auf keinen Fall. Außerdem wäre das im EDV-Katalog angezeigt worden. Bücher aus dem 17. Jahrhundert kann man nicht einfach so ausleihen. Kommen Sie bitte mit, ich werde die Kollegen fragen.“
„Ja, bitte fragen Sie, und zwar alle“, sagte Greven und verlieh seinem Wunsch mit kräftiger Stimme den nötigen Nachdruck. Wenig später hatten sich alle vierzehn Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in der Nähe des Schalters versammelt. Doch nicht einer konnte Auskunft geben über den Verbleib des Buches. Weder war es falsch eingeordnet worden, noch wurde es gerade restauriert. Der Monitor beharrte nach wie vor darauf, dass es an seinem Platz stand. Auch ein Ausschwärmen der Bibliothekare in die entlegensten Winkel des mittelalterlichen Gebäudes, um selbst abwegigen Möglichkeiten nachzuforschen, blieb ohne Ergebnis. Bald standen sie wieder vor ihm, zuckten die Achseln, diskutierten verschiedene Thesen.
Fast ein Déjà-vu-Erlebnis, Greven schritt erneut eine Phalanx ab, nur hatte er an einem anderen Ort andere Menschen vor sich, die allerdings nicht weniger ratlos waren. Inzwischen hatte er seine Assoziation revidiert, denn offenbar war sein Vergleich mit der Miskatonic-Universität falsch gewesen. Nun drängte sich ihm das Bild der Bibliothek einer Benediktiner-Abtei auf, in der auch nicht jedes Buch ohne weiteres aufzufinden war. Er sah in die Gesichter. Sollte sich unter diesen freundlichen und hilfsbereiten Bibliothekaren etwa ein ostfriesischer Malachias von Hildesheim befinden? Oder gar ein Jorge von Burgos, dem es nicht um das Lachen, sondern um Gordum ging? Der mit allen Mitteln etwas aus der Welt schaffen wollte, das ohnehin schon nicht mehr existierte, falls es denn überhaupt je existiert hatte? Das Ambiente jedenfalls würde zu dieser Möglichkeit passen. Er spielte diese Variante durch, die auf vierzehn weitere Verdächtige hinauslief, deren Alibis zu überprüfen waren, die einzeln zu befragen waren. Zusammen mit denen, die sich in Greetsiel schon angesammelt hatten, also etwa zwei Dutzend. Ein leiser, aber hörbarer Seufzer hallte durch das Kirchenschiff, brach sich an Tausenden von Buchrücken, wurde von alten und neuen Klinkerwänden reflektiert und verebbte schließlich in den Regalschluchten.
Seine ersten konkreten Fragen ergaben nichts. Niemand hatte den Band schon einmal bewusst in Händen gehalten. Niemand konnte sich erinnern, den Band schon einmal einem Interessierten ausgehändigt zu haben. Niemand hatte sich in jüngster Zeit um den Band bemüht.
„Wann wäre das Verschwinden frühestens bemerkt worden?“
„In ein, zwei Monaten“, antwortete eine junge Frau. „Wir sind nämlich dabei, die ältesten Werke zu digitalisieren. Mit der Bibliothek des Theologen Albert Hardenberg und den wenigen Bänden, die uns von Gerhard tom Camp noch verblieben sind, sind wir bald fertig. Anschließend ist das frühe 17. Jahrhundert an der Reihe. Und dazu zählt auch Himel von Torums Historiae obscurae. “
„Mit anderen Worten, im Herbst hätte jeder das Buch im Internet lesen können, Seite für Seite?“
„Ja, genau. Das ist ja der Sinn der Digitalisierung.“
„Wer hat davon gewusst, dass dieses Buch demnächst auf dem Scanner landen sollte?“
„Jeder“, antwortete ein älterer Mitarbeiter.
„Wieso jeder? Sie meinen die Bibliothekare?“
„Nein, wirklich jeder, denn das Entstehen der digitalen Bibliothek war mehrfach in der Presse nachzulesen.“
„Auch, dass demnächst das 17. Jahrhundert an der Reihe ist?“
„So detailliert natürlich
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