Die Gordum-Verschwörung
hinweisen. Und glauben Sie mir, keine Stadt verschwindet einfach so, ohne Spuren zu hinterlassen. Nicht einmal die heimlich gefällte Entscheidung eines Stadtrates kann dies bewirken. Andere untergegangene Orte wie Fletum oder Torum beweisen, dass zumindest auf dem Papier Spuren bleiben. Selbst die Existenz der Insel Burchana ist übrigens umstritten, erst recht ihre Größe und ihre Lage.“
„Könnten Sie wenigstens einmal nachsehen?“
Dr. Rothoff ging wieder in den Katalog und wurde auch gleich fündig. „Immerhin, ein kurzer Artikel, veröffentlicht in der Wochenendbeilage der Ostfriesenzeitung, verfasst von einem …“
„… Gernot Djuren“, fuhr Greven fort, rutschte neben den Archivar und überflog den Artikel aus dem Jahr 1975. Viel stand nicht drin. Es war eine schlechte Zusammenfassung der Thesen aus seinem Buch. Außerdem verzichtete Djuren in dem Beitrag darauf, so vehement auf Gordums Existenz zu pochen wie in seinem schmalen Bändchen.
„Himel von Torums Historiae obscurae haben Sie nicht zufällig in Ihrer Bibliothek?“
„Nein“, entgegnete der Archivar, ohne nachzusehen. „Aber ich kenne das Buch. In der Johannes a Lasco Bibliothek hatte ich es einmal in Händen. Aber dieses Werk können Sie nicht ernsthaft als Nachweis der Existenz Gordums anführen. Himel von Torums Geschichten sind nämlich genau das, wovon ich vorhin gesprochen habe, nämlich Märchen. Volksmärchen, um genau zu sein, aufgeschrieben von einem Sammler. Das einzig Erwähnenswerte an Himel von Torum ist, dass er dies lange vor Jakob und Wilhelm Grimm getan hat. Im Barock, wenn ich mich nicht irre, während die Grimms erst in der Epoche der Romantik das Volksmärchen entdeckt und gesammelt haben.“
Greven sah, wie das Möglichkeitsfeld, mit dem er den Stadtkenner hatte konfrontieren wollen, auf ein kleines Fleckchen geschrumpft war. Nicht mehr als eine Pfütze, wo sich noch am Mittag ein Meer erstreckt hatte. Dafür war aus dem befürchteten Fettnäpfchen ein großer Schmalztopf geworden, in den er zu stolpern drohte. Doch unterwegs abspringen konnte er auch nicht. Also schob er das Wasser der Pfütze mit den Händen zusammen und reichte es Dr. Rothoff, bevor es endgültig verdunstete. Großen Wert bei der Übergabe legte er allerdings auf die Feststellung, dass er das Wasser von einem Zeugen im Mordfall Claasen übernommen hatte und nun gezwungen sei, seine Tiefe auszuloten.
„Ich muss jeder Spur nachgehen, auch wenn sie ins Unwahrscheinliche führt. Ich dachte mir, wenn ich mich an jemanden wende, dann an Sie. Immerhin hat Sie die Emder Zeitung jüngst als den profundesten Kenner der Emder Stadtgeschichte gepriesen. Sind Sie übrigens gebürtiger Emder?“
„Nein, ich komme aus Oldenburg. Spielt denn das eine Rolle?“
„Jetzt nicht mehr.“ Dann holte er tief Luft und trug eine Zusammenfassung der Thesen von Thea Woltke vor.
Als der Archivar die Verschwörungstheorie vernahm, machte er ein Gesicht wie Cary Grant als Mortimer Brewster, nachdem er auf die Leiche in der Truhe seiner Tanten gestoßen war. Allerdings mündete diese Verwandlung nicht in das Entsetzen des Vorbildes, sondern in ein kräftiges Lachen, von dem sich der Archivar nur langsam erholte. Er sah Greven an, als wartete er darauf, umgehend einen weiteren Witz erzählt zu bekommen. Mit einer derart heftigen Reaktion hatte Greven nicht gerechnet. Mit einem Schmunzeln vielleicht, einem Kopfschütteln, aber nicht mit diesem derben Lachen. Doch noch war es nicht zu spät, die Verschwörungstheorie auf die Füße zu stellen und so zu präsentieren, dass sie besser in die Welt passte. Er wartete einen Moment, bis sich der Experte wieder im Griff hatte, dann wagte er einen zweiten Anlauf, nicht zuletzt, um sich vor dem freien Fall in den lauernden Schmalztopf zu bewahren.
„Ich erwarte ja gar nicht, dass Sie mir einen geheimen unterirdischen Sitzungssaal präsentieren, in dem sich seit dem vierzehnten Jahrhundert regelmäßig vermummte Gestalten in wallenden Gewändern treffen. Obwohl …, na gut, lassen wir das. Für durchaus möglich halte ich zum Beispiel einen Einzeltäter, einen Psychopathen, der von der Wahnidee besessen ist, den geheimen Ratsbeschluss, den Himel von Torum zu kennen glaubte, rücksichtslos in die Tat umzusetzen. Eine Art Vollstrecker der Stadtgeschichte. Ein einsamer Rächer, der davon überzeugt ist, die Interessen der Stadt Emden zu verteidigen, und dabei über Leichen geht. Das klingt doch schon viel plausibler,
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