Die Gottessucherin
umwarb sie wie eine geborene Prinzessin, und stets hatte er ein Geschenk oder eine Überraschung für sie. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich kein Mann so sehr um sie bemüht, und noch nie hatte sie sich so erwachsen gefühlt wie in seiner Gegenwart. Wie würde es erst sein, wenn sie in seinen Armen läge? Ja, sie war verliebt, so verliebt, wie ein Mädchen von vierzehn Jahren nur sein konnte, und kein einziges Mal, seit sie am Hof der Regentin lebte, hatte sie auch nur einen Gedanken an José verschwendet, ihren Cousin, den ihre Mutter für sie zur Ehe auserkoren hatte.
»Senhor Aragon! Lasst mich nicht allein!« Ihr Ruf verhallte ohne Echo. Reyna öffnete ein halbes Dutzend Türen, schaute in alle Gänge, aber keine Spur von ihrem Verehrer. War er ihr vielleicht böse? Weil sie seinen Versuch, sie auf den Mund zu küssen, abgewehrt hatte? Sie glaubte, Schritte zu hören, aus der Richtung des Ballsaals, und wollte zu ihm eilen, um sich zu vergewissern, dass er ihr nicht zürnte, doch das durfte sie nicht. Er hatte ihr jede Form von Eile oder Hast verboten, und sie war sicher, dass er sie beobachtete.
»Eine Dame darf niemals eilen. Das tun nur Lakaien. Eine Dame schreitet.«
Senhor Aragon persönlich hatte ihre Erziehung übernommen, um sie auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Und die Zeit drängte. In wenigen Wochen würde Maria für ihren Bruder Karl, der gerade zwischen zwei Feldzügen durch die Niederlande reiste, eine große Jagdgesellschaft im Heerenhuys von Boendal ausrichten, und zu diesem Anlass sollte Reyna ihm vorgestellt werden - dem Herrscher eines Reiches, das angeblich so groß war, dass die Sonne darin niemals unterging. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau. Was sie nicht alles lernen musste! Dass man beim Essen das Fleisch nicht mit dem Messer vor den Lippen abschnitt, sondern auf dem Essbrett zerkleinerte, um es zierlich mit der Gabel zum Mund zu führen; dass man die Speisen nicht hastig verschlang, als müsse man gleich ins Gefängnis, sondern mit größter Langsamkeit zu sich nahm; dass man einen gebrauchten Löffel nicht in die Schüssel tauchte, aus der sich alle bedienten, dass man weder schmatzen noch rülpsen durfte, und wenn man sich schneuzte, dann nicht wie ein Bauernlümmel in den Ärmel, sondern zwischen den Fingern, um mit dem Fuß zu verwischen, was auf den Boden gefallen war ... Eigentlich waren alle diese Regeln Reyna längst geläufig, ihre Mutter, die Antwerpens Bauernlümmel genauso verachtete wie ihr neuer Lehrer, hatte sie ihr von klein auf beigebracht, aber wenn Senhor Aragon ihr diese Regeln nun erklärte, bekamen sie viel mehr Gewicht. Dieser Mann war kein Mensch, sondern ein spanischer Edelmann! Und es war für Reyna ein unbegreifliches Wunder, dass er sie zur Frau nehmen wollte.
»Senhor Aragon?«
Die Schritte wurden lauter, doch als Reyna um die Ecke spähte, erblickte sie am Ende des Ganges statt ihres Verehrers die Regentin in Begleitung ihres Dominikanermönchs. Eilig versteckte sie sich hinter einem Mauervorsprung. Die zwei machten ihr Angst. Während der Kaiser ständig im Krieg war, gegen die Türken oder gegen den König von Frankreich, war seine Schwester Maria die eigentliche Herrscherin der Niederlande, und die Würdenträger und Bittsteller, die in ihrem Palast ein und aus gingen, begegneten ihr mit größerem Respekt als jedem Mann. Angeblich hatte Maria in einer Schlacht sogar das Heer des Kaisers angeführt und einen Sieg über die Franzosen errungen, und Reyna selbst hatte miterlebt, wie sie Befehl gegeben hatte, zwei Ketzer, Wiedertäufer aus Münster, auf dem Marktplatz von Brüssel hinrichten zu lassen. In Glaubensfragen war die Regentin so streng wie Reynas Mutter. Jeden Morgen musste sie mit ihr die Messe in der Kapelle besuchen und alle zwei Tage bei Bruder Cornelius beichten, auch wenn es gar nichts zu beichten gab. Wie sie die Ermahnungen in dem finsteren Gestühl hasste! Der Mönch hatte ihr verboten, die ausgeschnittenen, mit Schellen besetzten Kleider zu tragen, die ihr Tante Brianda geschenkt hatte. Stattdessen verlangte er, dass sie ihren Körper, den er ihr »stinkendes Fleisch« nannte, obwohl sie sich doch täglich wusch, in schwarze Kostüme mit radgroßen Halskrausen zwängte, die so steif und eng und unbequem waren, dass man sich kaum darin rühren konnte. Und an den Füßen musste sie Schuhwerk mit dicken Holzsohlen tragen, damit sie nicht in Versuchung geriete, zu hüpfen oder zu tanzen. Vor allem aber hatte der Mönch sie unter
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