Die Gottessucherin
ein graues Tuch über den Marktplatz senkte. Wie sie dieses Wetter hasste! Obwohl im Kamin ein kräftiges Feuer brannte und sie außerdem eine Decke um die Schulter trug, fror sie am ganzen Leib. Seit Tagen fühlte sie sich schon krank. Aber mehr noch als an der feuchten Kälte, die ihr in alle Glieder kroch, litt sie daran, dass Reyna nicht mehr bei ihr war. Der Verlust ihrer Tochter schmerzte sie fast genauso wie vor Jahren der Verlust ihres Mannes. Reyna war doch das Bindeglied zu Francisco, das Glaubenspfand, das ihr von Gott gegeben war. Aber noch immer hatte sie keine Idee, wie sie Reyna aus den Händen der Edomiter zurückgewinnen könnte.
Auf dem regennassen Marktplatz spiegelten sich in den Pfützen die Prunkfassaden der »spanischen Türme«. Diogos Haus war mit fünf Stockwerken das größte in der ganzen Reihe, und auf dem Giebel bäumte sich ein goldenes Pferd. Aber was nützte all der Reichtum? Vor zwei Wochen war die Felicidade in See gestochen, mit Kurs auf Lissabon. Der Kapitän, Dom Alfonso, würde gleich nach der Ankunft dem portugiesischen König einen Brief überbringen, in dem die Regentin und der kaiserliche Generalkommissar für Converso-Angelegenheiten Dom Jono aufforderten, sich persönlich für das Leben und die Sicherheit von Gracias Vater zu verbürgen. Sobald die Antwort aus Lissabon in Antwerpen einträfe, stünde der Eheschließung Aragons mit Reyna nichts mehr im Wege.
»Gebe Gott, dass die Felicidade noch viele Tage braucht«, sagte Gracia.
»Warum?«, fragte Brianda. »Glaubst du wirklich, du kannst noch etwas ändern?«
»Ich weiß es nicht. Aber jeder Tag ohne Antwort ist ein Zugewinn an Zeit.«
»Und was ist mit unserem Vater?«
Gracia spielte mit der bunten Stoffpuppe in ihrer Hand, die sie am Morgen genäht hatte. La Chica hatte Geburtstag, ihren zweiten, nur darum hatte sie sich in das Haus ihres Schwagers geschleppt. Aber ihre Nichte lag noch in ihrem Bettchen und hielt Mittagsschlaf.
»Du musst in die Heirat einwilligen«, sagte Brianda. »Es ist für uns alle das Beste. Wenn Reyna erst verheiratet ist, sind wir für immer sicher.«
»Weißt du, was du von mir verlangst?«
»Weißt du, was du von
uns
verlangst?«, fragte Brianda zurück. »Deinetwegen haben sie Diogo fast die Hand abgehackt, und jetzt ist Vaters Leben in Gefahr. Was muss denn noch passieren, damit du endlich Vernunft annimmst? Wenn wir hier leben wollen, müssen wir uns anpassen. Eine andere Wahl gibt es nicht.«
Gracia wandte sich vom Fenster ab. »Soll ich meinen Segen dazu geben, dass meine Tochter diesen Mann heiratet? Den Converso-Kommissar des Kaisers?«
»Wenn du mich fragst - ja«, erwiderte Brianda. »Ich habe damals auch auf dich gehört, als ich Diogo das Jawort gab. Obwohl ich einen anderen Mann liebte.«
»Aber dieser Mann ist einer unserer schlimmsten Feinde! Ein Christ! Er wird Reyna zwingen, zu seinem Gott zu beten!« »Ja, und? Hört sie etwa auf, deine Tochter zu sein, wenn sie vor Jesus niederkniet? Überleg doch mal! Sie darf am Hof der Regentin leben! Jedes Mädchen im ganzen Land wäre glücklich, wenn sie das dürfte, und ich bin sicher, Reyna ist es auch.« Sie schüttelte den Kopf. »Manchmal glaube ich, du hast gar keine Ahnung, wer deine Tochter in Wirklichkeit ist.« »Warum sagst du das?«, fragte Gracia. Brianda zuckte die Achseln. »Weil es so ist!« »Willst du mich noch mehr quälen?«
Gracia hoffte, dass Brianda einlenken würde. Doch die erwiderte nur wortlos ihren Blick. Wahrscheinlich hatte ihre Schwester ja recht. Aus den Briefen, die Reyna aus Brüssel schrieb, sprach eine solche Begeisterung, dass sie ihre Tochter kaum wiedererkannte - wie berauscht schien sie vom Leben am Hofe zu sein ... Gracia fühlte sich so schwach, dass ihr sogar die Puppe in der Hand zu schwer wurde.
Sie legte sie gerade auf den Tisch, da ging die Tür auf. »Brrr, so ein Sauwetter!«
Diogo trat ein und schüttelte sich. Als er Gracia sah, zuckte er kurz zusammen. Doch nur für eine Sekunde. Dann warf er seinen nassen Zobel auf einen Stuhl und drückte der Schwägerin ein Säckchen in die Hand. »Das ist für Euch.« »Für mich? Was ist das?«
»Ingwerwurzel. Von Amatus Lusitanus. Er lässt Euch ausrichten, Ihr sollt daraus einen Tee brauen. Alle zwei Stunden einen großen Becher.«
»Das ist auch so etwas, was ich nicht verstehe«, sagte Brianda. »Warum kommt er nicht selbst, um dich zu behandeln? Und warum lädst du ihn nicht mehr zu dir ein? Nur weil er dir einen Antrag
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