Die Gottessucherin
die Entzündung, dazu Senfsamen, Muskatnuss, Kardamom, Anis, Kreuzkümmel, Süßholz. Und außerdem Bitterklee, damit der Leib deines Bruders von der Chinarinde nicht aufbläht. Andere Patienten mussten für eine so kostbare Arznei ein Vermögen zahlen.« »Aber warum wird er dann nicht gesund?« Statt zu antworten, biss Eliahu in sein Brot. Er kaute so langsam, dass Samuel fast verrückt wurde. Immer wieder leckte er sich über die wulstigen Lippen, damit kein Krümel verlorenginge, und stierte mit seinen vorquellenden Gottesmörderaugen vor sich hin, als könnte er dadurch besser schmecken. Warum hatte er diesem Menschen nur vertraut? Um irgendetwas zu tun, wickelte Samuel seinen Bruder aus der Decke. Er wollte ihn in ein frisch getränktes Tuch einschlagen. »Dein Bruder steht an einem Scheideweg«, sagte Eliahu schmatzend. »Auf der einen Seite führt ein schmaler, steiniger Pfad einen steilen Berg hinauf. Das ist der Weg zur Gesundheit, zum Leben. Der andere Weg ist eine breite, bequeme Straße. Sie führt immer weiter in die Krankheit hinein, in die Krankheit und in den Tod. Welchen Weg dein Bruder wählt, ist allein seine Entscheidung.«
»Aber was kann ich tun, damit er sich richtig entscheidet?«, fragte Samuel verzweifelt.
»Bete das Schma«, erwiderte Eliahu.
Samuel entfernte das alte Leinentuch vom Leib seines Bruders. Nackt und hilflos wie ein neugeborenes Kind lag er vor ihm. Mit einem Lappen wischte er ihm den Schweiß ab. Um das beschnittene Glied des Jungen spross erster dunkler Flaum. Der Anblick trieb Samuel Tränen in die Augen. Würde dieser kleine, unschuldige Zipfel je erfahren, was für ein Glück es war, mit einer Frau zu schlafen? Er tunkte das Leinentuch in kaltes, frisches Wasser und wickelte seinen Bruder wieder ein. Benjamin musste fort von der breiten Straße, zurück auf den schmalen, steinigen Weg ... »Ich bringe dir das Schwimmen bei, das verspreche ich dir«, flüsterte Samuel, während er die wollene Decke um das Leinentuch hüllte. »Dann gehen wir baden, du und ich. Und die Mädchen am Flussufer schauen uns zu und winken und lachen. Und wenn dir eine gefällt, dann laden wir sie ein zum Tanzen, und du drehst sie im Kreise, so lange, bis du sie küssen darfst ...« Er redete und redete, malte seinem Bruder aus, was ihn am Ende des steinigen Pfads erwartete, des Daseins ganze Fülle, das Leben in seinen allerschönsten Farben, doch Benjamin stöhnte nur leise und drehte sich zur Seite, mit leeren, glänzenden Augen. »Er kann mich nicht mehr hören«, sagte er. »Hören schon«, erwiderte Eliahu. »Aber nicht verstehen.« »Wo ist da der Unterschied?«
Noch während er sprach, kam Samuel ein Gedanke. Doch, vielleicht gab es einen Unterschied. Verstehen konnte man nur mit dem Kopf, und Benjamins Kopf glühte so heiß, dass jeder Gedanke darin zerschmelzen musste wie in einer Hitzekammer. Aber hören konnte man auch ohne Verstand, zum Hören brauchte man nur Ohren und die Seele.
Samuel beugte sich zu seinem Bruder hinab, so tief, dass ihre Gesichter sich fast berührten. Dann faltete er seine Hände vor dem Mund zusammen und machte den Ruf des Käuzchens nach.
29
Die leisen Klänge einer Laute verloren sich irgendwo in der Ferne, während Reyna durch das Labyrinth der Flure und Gänge irrte. Der Coudenberg-Palast, der sich mit seinen weitläufigen Gebäuden und Gärten über einen ganzen Hügel von Brüssel erstreckte, war größer als der Marktplatz und Groenplaats in Antwerpen zusammen, und die Einsamkeit in den kühlen feuchten Mauern umfing sie wie der Abendhauch eines dahinsinkenden Novembertages.
»Senhor Aragon?«, rief sie in die Leere hinein. »Wo seid Ihr?« Eben war ihr Verehrer noch da gewesen, doch jetzt schien er wie vom Erdboden verschluckt. Nur die Klänge seiner Laute hinterließen eine feine, flüchtige Spur. Seit zwei Wochen lebte Reyna nun schon im Schloss der Regentin. Obwohl sie sich unter all den fremden Menschen manchmal so allein fühlte, dass sie es kaum aushielt, war sie gleichzeitig fasziniert von der Pracht am Hofe, und die Ehrerbietung, mit der man ihr als künftiger Ehrendame begegnete, erfüllte sie mit solchem Stolz, dass Heimweh und Trennungsschmerz darüber mehr und mehr verblassten. Vor allem, wenn Senhor Aragon sie besuchte, der Mann, den sie nach dem Willen des Kaisers heiraten sollte. Wann immer der Spanier erschien, war es, als würde jemand ein Licht anzünden, und alle Einsamkeit war wie weggeblasen. Er umschmeichelte und
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