Die Gottessucherin
wie er. Sogleich versuchten beide, in die Mensur zu gelangen, den günstigsten Abstand zum Gegner, um einen Angriff zu wagen.
»Halt!«, rief der Fechtmeister, um das Duell sogleich wieder freizugeben.
José hatte das beste Examen von allen Studenten seines Jahrgangs abgelegt. Solange er zurückdenken konnte, hatte er besser sein müssen als andere, um sich zu behaupten. Schon als Halbwüchsiger hatte er Aufgaben erfüllt, die sonst Erwachsenen vorbehalten waren, um nach dem frühen Tod seiner Eltern einen Platz in der Familie und der Firma Mendes zu erobern. Und nur weil er in Löwen den anderen Studenten immer wieder bei ihren Prüfungen geholfen hatte, waren sie bereit gewesen, ihn als ihresgleichen anzuerkennen, obwohl er Jude war. Zum Glück hatten seine Eltern ihn nicht beschneiden lassen, aus Angst, es könnte ihm schaden - Maximilian hatte beim Pinkeln darauf bestanden, seinen Schwanz zu sehen, bevor er ihn offiziell zu seinem Freund erklärte. Er selbst war stolz darauf, Jude zu sein, die Juden waren das älteste und vornehmste Volk, ein Volk, das niemals untergehen würde, auch wenn sich alle anderen Völker gegen sie verschwören würden. Doch da er diesen Stolz nie offen zeigen durfte, war es sein Ehrgeiz, die Christen, unter denen er lebte, auf allen Kampfplätzen zu übertrumpfen, auf denen sie sich überlegen glaubten, am besten mit ihren eigenen Mitteln, gleichgültig, ob im Hörsaal oder auf dem Fechtboden. »Touche!«
José hatte seinen Freund an der Schulter verletzt, und aus der Wunde sickerte Blut durch das Wams. Doch Maximilian kämpfte weiter, als würde er keinen Schmerz spüren. Der Neffe des Kaisers focht wie ein Ritter in alter Manier. Mit beiden Händen führte er den Degen und versuchte immer wieder, mit aller Kraft von oben herab seinen Gegner zu treffen, mit Zorn- und Krummund Scheitelhieben. José hingegen focht wie ein Italiener. Dazu war weniger Kraft als Geschicklichkeit erforderlich. Mit Finten und Ausfallschritten parierte er die Angriffe seines Gegners, um schnell und geschmeidig in die Gegenattacke zu gehen, sobald Maximilian sich eine Blöße gab. Doch er musste vorsichtig sein. Im Hörsaal, wo jeder Wettstreit sich in Worten erschöpfte, durfte er seinem kaiserlichen Freund überlegen sein, nicht aber hier. Hier ging es nicht um Worte, sondern um die Ehre. »Touche!«
Mit der Spitze seines Degens hatte José den Gürtel seines Gegners aufgeschlitzt. Jetzt klaffte Maximilians Hosenlatz auf, und die Zuschauer bogen sich vor Lachen. »Verfluchter Jude!«, zischte Maximilian und holte aus. Der Hieb traf José mit der Breitseite der Klinge, mit solcher Wucht, dass er ins Torkeln geriet. Viel schlimmer aber als der Hieb war die Beleidigung, und die Wut, die ihn packte, ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Mit einem Scheinstoß griff er an, um seinen Gegner aus der Deckung zu locken. Maximilian fiel auf die Finte herein, seine linke Seite war frei, doch genau in dem Augenblick, als José in die Blöße schlagen wollte, rief jemand seinen Namen.
Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Ein Kurier betrat den Fechtsaal. »Meinst du mich?«, fragte José.
Im selben Moment spürte er die Spitze von Maximilians Degen an seinem Hals. Diese eine Unaufmerksamkeit hatte gereicht, um das Gefecht zu entscheiden. José war heilfroh. Er wusste nicht, was sonst passiert wäre.
»Ergibst du dich?«, fragte Maximilian mit triumphierendem Grinsen.
»Ein Jude ergibt sich nie«, erwiderte José. »Und mein Freund, was tut der?« »Der ergibt sich.«
Während Maximilian unter dem Gejohle der Studenten seinen Degen in die Scheide steckte, reichte der Kurier José ein versiegeltes Kuvert.
»Ein Brief für Euch, aus Antwerpen.«
Das Kuvert trug das Siegel der Firma Mendes. José öffnete es und überflog die wenigen Zeilen. Dom Diogo forderte ihn darin auf, sofort nach Holsbeek zu reiten, ein Dorf unweit von Brüssel. Dort solle er sich bereithalten und auf weitere Anweisungen warten.
»Und zieh deine Uniform an. Es geht um Reyna, sie braucht deine Hilfe!«
33
Ein kräftiger Küstenwind war in der Nacht von Norden her aufgefrischt und hatte die Wolkendecke über Antwerpen auseinandergerissen. Nun ragten die Bürgerhäuser mit ihren stolzen, reichverzierten Giebeln in einen weiß-blauen Himmel empor, und die Butzenscheiben der Fensterfronten funkelten und blitzten um die Wette mit dem glitzernden Wasser der Scheide, in deren Fluten sich die Sonnenstrahlen tausendfach brachen, während ein
Weitere Kostenlose Bücher