Die Gottessucherin
»Nach meinen Sommersprossen?« Sie wusste nicht, warum, aber etwas Schöneres hätte er gar nicht sagen können. »Dann ... dann hoffe ich nur, dass du jetzt nicht enttäuscht bist.« »Enttäuscht?«, fragte er. »Weshalb?«
»Weil ich nur im Sommer welche habe. Da«, sagte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu, »schau nur genau hin. Die letzten sind schon vor Wochen verschwunden.«
»Vielleicht«, sagte er, und seine Stimme war ganz rau. »Aber ... aber ich kann sie trotzdem sehen.«
»Wirklich?«, fragte sie, und ihre Stimme klang ebenfalls rau. Mit einem Lächeln nickte er ihr zu. Und während sie einander schweigend in die Augen sahen und draußen der Wind um das Haus strich, wurde diese schöne, leise Angst in Reyna so groß und mächtig und stark, dass sie es kaum noch aushielt. »Weißt du noch, was du über meine Sommersprossen geschrieben hast«, fragte sie mit ihrer rauen Stimme, »was du mit ihnen machen möchtest, wenn du bei mir bist?«
40
Seit dem Morgen hatte Amatus Lusitanus mit sich gerungen, ob er Dona Gracia aufsuchen sollte oder nicht. Doch erst jetzt, am späten Abend, die Turmuhr der Liebfrauenkathedrale hatte schon zur neunten Stunde geschlagen, machte er sich auf den Weg, trotz des Regens, der immer noch in heftigen Böen auf die Stadt niederging. Nein, er konnte Antwerpen nicht verlassen, ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Sultan Süleyman der Prächtige hatte seinen Ruf erneuert und drängte auf eine Antwort. Sinan, sein Gesandter, war ein zweites Mal aus Konstantinopel angereist, um Amatus in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches zu holen, damit er im Topkapi-Serail als Leibarzt des Herrschers arbeite. Obwohl schon alles zur Abreise bereit war, hatte Amatus beschlossen, seine Entscheidung von Dona Gracia abhängig zu machen. Sein Freund Diogo Mendes hatte ihm zwar erklärt, dass sie ihn nicht erhören werde, und er hatte nie wieder gewagt, ihr unter die Augen zu treten, seit er ihr Begehren, seinen Eid als Arzt zu brechen, um ihr den verfluchten Dominikaner vom Hals zu schaffen, verweigert hatte. Und dennoch - als er am Abend seinen Abschiedsbrief geschrieben hatte, war ihm fast die Tinte in der Feder vertrocknet. Er musste Dona Gracia ein letztes Mal sehen, musste von ihr selbst die Entscheidung hören, aus ihrem eigenen Mund: Wenn sie wünschte, dass er in Antwerpen bleibe, würde er bleiben; riet sie ihm aber, Süleymans Ruf zu folgen, dann war alle Hoffnung, dass sie ihn je erhören würde, vergebens, und er würde die Stadt verlassen, um in den Orient aufzubrechen. Als Amatus den Groenplaats erreichte, peitschte der Wind ihm die Nässe ins Gesicht. Würde Gracia ihn überhaupt empfangen? Schwarz und dunkel erhob sich ihr Haus hinter den Regenschleiern, eine steinerne Abwehr.
Er wollte umdrehen, da sah er, dass das Tor nur angelehnt war. Durch den Spalt drang Licht aus der Halle. Sollte er eintreten? Oder sollte er lieber am Morgen wiederkommen?
Bevor er sich entschied, hatte er das Tor schon geöffnet. Kaum aber hatte er das Haus betreten, bereute er sein Kommen, wie er noch nie etwas bereut hatte.
Triefend vor Nässe, hörte er aus dem Dunkel Laute, die er nicht fehldeuten konnte. Obwohl sie nur geflüstert waren, erkannte er die Stimmen: Sie gehörten Dona Gracia, der Frau, die er liebte, und Diogo Mendes, seinem Freund. »Mein Geliebter ...« »Mein Engel ...« »Mein Leben ...«
Die wenigen Worte brachen Amatus das Herz. Die Entscheidung war gefallen - keinen Tag länger würde er hierbleiben. Er zog das Schreiben, von dem er gehofft hatte, es in dieser Nacht zu verbrennen, unter seinem triefenden Mantel hervor und legte es auf eine Truhe. Es war sein Abschiedsbrief. Darin teilte er Dona Gracia mit, dass er nach Konstantinopel aufbrechen würde, um dem Ruf des Sultans zu folgen.
... Ich habe mein Schicksal in Eure Hand gelegt und füge mich, wie Ihr es verlangt.
Solltet Ihr aber je meiner Freundschaft bedürfen, zögert nicht, mir zu schreiben. Ich werde immer für Euch da sein, wo immer Euer Ruf mich erreicht.
In aufrichtiger Verbundenheit –
Euer treuer Verehrer, Amatus Lusitanus
41
Am Himmel verblassten die letzten Sterne, als Diogo an Gracias Seite erwachte, nackt und liebessatt. Der Sturm hatte sich gelegt, draußen herrschte eine vollkommene, fast unheimliche Stille. Nur ein erster grauer Schimmer drang durch die aufgerissenen Wolken, Vorbote des neuen Tages, eine unwirkliche Ahnung von Licht, das die Dächer von Antwerpen streifte. Die
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