Die Gottessucherin
ich sehe doch, dass Ihr friert.«
»Das tue ich immer, wenn mir zu warm ist. Bitte, tut mir den Gefallen.«
Er lächelte sie aufmunternd an, und schließlich nahm sie den Mantel. Sie hatte keine Kleider zum Wechseln, alles war in der Kutsche, die sie nach Boendal hätte bringen sollen. Obwohl sie seinem Blick auswich, spürte sie sein Lächeln, auch noch, als sie sich den Mantel um die Schultern legte, spürte es bei jeder Bewegung. Warum tat er das alles für sie? Wusste er denn nicht, dass sie ihn verraten hatte, um Senhor Aragon zu heiraten? Sie dankte dem Himmel, dass er ihr José geschickt hatte. Kein anderer Mensch, außer ihrer Mutter, war ihr so vertraut wie ihr Cousin, trotz seines Bartes. Sie wünschte sich nur, dass er mit ihr wieder so sprechen würde wie früher. Früher hatte er immer »du« zu ihr gesagt, auch noch in seinen Briefen. Doch jetzt, da sie beide so allein waren, wie zwei Menschen es überhaupt nur sein konnten, redete er mit ihr wie mit einer Fremden.
»Wollt Ihr nicht etwas essen?«, fragte er und reichte ihr das Brett mit kaltem Braten, das der Wirt auf den Tisch gestellt hatte, zusammen mit einem Laib Brot und einem Krug Wein. Reyna schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das Fleisch ist vom Schwein.«
»Seid Ihr so streng? Wie Eure Mutter?« Als sie mit der Antwort zögerte, schnitt er eine Scheibe Brot für sie ab. »Dann esst wenigstens das. Und trinkt einen Schluck Wein. Der wird Euch gut tun.«
Ohne auf ihre Antwort zu warten, schenkte er ihr einen Becher ein. Schon beim ersten Schluck spürte sie, wie der Wein sie wärmte, sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ein wenig schwand sogar ihre Angst.
»Ich bin so froh, dass Ihr da seid«, sagte sie.
»Und ich erst. Ich wollte nur, wir hätten eine bessere Herberge gefunden. Es muss unerträglich sein für Euch. Schließlich habt Ihr im Palast der Regentin gelebt.«
»Ach«, seufzte Reyna. »Ich war so schrecklich dumm. Wie eine Gans habe ich mich benommen.« »Was redet Ihr da? Ich verstehe kein Wort.« »Mir erschien alles so prächtig am Hof, so großartig und herrlich, und ich dachte, es könnte nichts Schöneres geben, als für immer dort zu leben.« Als sie seinen Blick sah, verstummte sie. Ihre Mutter hatte es besser gewusst. Immer hatte sie darauf gedrängt, dass sie Joses Briefe beantwortete. So leise, dass sie ihre eigenen Worte kaum hörte, flüsterte sie: »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich schäme.«
»Weshalb solltet Ihr Euch schämen?«, fragte José. »Jede Frau hätte genauso empfunden. Aber nur wenige haben das Glück, wirklich am Hof der Regentin ...«
»Nein«, unterbrach sie ihn, »ich war dumm. Ich hatte sogar geglaubt, Senhor Aragon wäre ... Senhor Aragon würde ...« »Pssst«, machte er. »Davon will ich gar nichts wissen. Trinkt lieber noch einen Schluck.«
Als könnte es gar nicht anders sein, tat sie, was er sagte. Und wieder spürte sie, wie gut der Wein ihr tat.
Aber war es wirklich der Wein? Oder war es José?
»Ich ... ich habe eine Bitte«, sagte Reyna.
»Nämlich?«
»Würdet... würdet Ihr wieder
du
zu mir sagen? So wie früher?« Mit erhobenen Brauen sah er sie an. »Möchtet Ihr - ich meine, möchtest
du
das?«
Zögernd, fast scheu streckte er die Hand nach ihr aus. Reyna stellte ihren Becher auf den Tisch und legte ihre Hand in seine. »Ja«, sagte sie, »das möchte ich.«
Als seine Finger sie berührten, spürte sie wieder eine leise Angst. Doch es war eine ganz andere Angst als die zuvor. Eine Angst, die sie ganz warm machte und fast ein bisschen glücklich. Als würde er ihre Gedanken erraten, fragte er: »Darf ich mich zu dir setzen?«
Reyna nickte. »Aber nur, wenn wir uns den Mantel teilen.« Sie rückte ein wenig zur Seite und öffnete den Mantel. Spürte auch er diese Angst? Er war ganz dicht bei ihr, aber er berührte sie nicht, ein winziger Abstand war noch da. Während sie Seite an Seite in das Feuer starrten, wagte Reyna kaum zu atmen. Nichts hatte sich verändert, und trotzdem war plötzlich alles anders. Sogar das Heulen des Windes, der sich draußen wieder erhob, hörte sich jetzt vertraut an.
»Du hast mir so schöne Briefe geschrieben«, sagte sie, die Augen auf das Feuer gerichtet.
»Wenn ich dir schrieb«, sagte er, »war es, als wäre ich bei dir. Deshalb musste ich dir immer wieder schreiben, am liebsten jeden Tag. Ich ... ich habe mich die ganze Zeit so nach dir gesehnt - das heißt, ich meine«, stammelte er, »nach deinen Sommersprossen.«
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