Die Gottessucherin
Kerzen in der Kammer waren bis auf die Stümpfe heruntergebrannt. Leise, um Gracia nicht zu wecken, beugte Diogo sich über ihr Gesicht. Er wollte sie noch einmal betrachten, bevor er aufbrach, die Frau, die in dieser Nacht eins mit ihm geworden war. Nackt wie er selbst, lag sie auf dem Rücken, eine Hand locker auf ihrer Brust, die andere im Nacken. Das Haar, das sie sonst immer unter einer Haube trug, flutete offen auf das weiße Leinen und umgab ihren Kopf wie eine rötlich schimmernde Aureole. Mit seinen Blicken liebkoste er ihr Gesicht: den hohen Schwung ihrer Brauen, die feine Krümmung der Nase, die vollen Lippen, deren Geschmack er noch spürte. Wie eine Königin lag sie da, und zugleich ganz ungeschützt, eine zerbrechliche Majestät. Nie hätte er gedacht, dass sie sich ihm so preisgeben würde. Ein Lächeln spielte um ihren Mund. Träumte sie noch von der vergangenen Nacht?
Wenn er sonst an der Seite einer Frau erwachte, empfand er meist schalen Triumph, in den sich ein Gefühl der Vergeblichkeit mischte. Wie ein Matador, der einen Stier erlegt hatte. Wie anders empfand er jetzt. Zwar konnte er sich seine Gefühle nicht erklären, doch er wusste genau, dass er noch nie in seinem ganzen verfluchten Leben so glücklich gewesen war wie an diesem Morgen.
Er musste sich beherrschen, um sie nicht zu küssen. So viele Jahre war diese Frau ihm ein Rätsel gewesen. Nie hatte er wirklich gewusst, was sie dachte, was sie antrieb. Stets schien sie eine Schwankende, hin- und hergerissen zwischen ihrer Selbstlosigkeit und ihrer Selbstherrlichkeit, zwischen ihrer Gottesfurcht und ihrem Geltungsdrang, zwischen ihrer glühenden Gottesliebe und ihrer Gier, selbst geliebt zu werden. Jetzt aber glaubte er sie zu kennen. Weil zwei Menschen erst dann einander wirklich kennen, bis auf den Grund ihrer Seele, wenn ihre Leiber eins geworden sind, so wie Gracia und er in dieser Nacht. In ihren Armen hatte er, nach Jahren, in denen er unfähig gewesen war zu beten, wieder gelernt, was Beten heißt.
Draußen rumpelte ein Karren vorbei. Diogo richtete sich auf. Die Zeit drängte. Sie mussten Antwerpen verlassen, so bald wie möglich. Auch wenn sie ihre Verfolger auf eine falsche Fährte gelockt hatten - in zwei, spätestens drei Tagen würde die Regentin Soldaten losschicken, um nach ihnen zu forschen, auch hier in Antwerpen. Dann mussten sie fort sein. Zwar hatten sie für den Fall, dass ihr Plan vor der Zeit entdeckt werden sollte, ein Schreiben von Joses Hand, in dem der sich zur alleinigen Verantwortung an Reynas Entführung bekannte, aber ob dieses Geständnis ausreichte, um sie zu schützen, war mehr als ungewiss. »Gracia ...«
Er streifte mit den Lippen über ihr Gesicht, um sie zu wecken. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Er küsste sie auf den Mund, in zärtlicher Angst, dass sich das Lächeln auf ihren Lippen verlieren könnte. Aber wie dumm war seine Angst ... Wie eine Frau, die ihren Mann nach langer Irrfahrt auf der Schwelle ihrer Tür erwartet, schaute sie ihn an, erlöst und voller Verlangen. »Komm noch einmal zu mir«, flüsterte sie. »Ich will dich noch einmal spüren, mein Geliebter ...«
42
»Und das Gesinde?«, fragte Diogo und griff nach seinem Zobel. »Es ist besser, wenn mich niemand sieht.« »Keine Angst«, sagte Gracia. »Sie sind alle auf der Kirchweih in Wilrijk. Ich habe ihnen bis Sonntag freigegeben.« Diogo legte sich den Pelz um die Schultern, und zusammen gingen sie hinunter in die Halle.
»Das Tor ist ja nur angelehnt«, staunte er. »Wie konnten wir so leichtsinnig sein?«
»Wundert dich das?«, fragte sie mit einem Lächeln. Plötzlich wurde sie ernst: »Morgen ist Sabbat. Können wir nicht bis übermorgen warten?«
Diogo schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Gott ist es lieber, wenn wir an seinem Ruhetag reisen und dafür in Sicherheit sind, als wenn wir den Sabbat heiligen und verhaftet werden.« Er gab ihr einen Kuss. »Bereite alles vor. Ich bin gleich wieder da.« »Ich vermisse dich jetzt schon«, sagte sie. »Gib acht, dass dir nichts passiert.«
Diogo lugte durch den Torspalt, dann stahl er sich aus dem Haus. Im Hafen lag ein Segler der Firma Mendes bereit, die Fortuna. Mit der würden sie zuerst bis Rotterdam und von dort aus den Rhein hinauf bis Straßburg segeln, wo sie mit Reyna und José und hoffentlich auch mit Brianda zusammentreffen würden. Diogo wollte dem Kapitän die nötigen Instruktionen geben. Das Schiff sollte auf der Höhe von Kappelen auf Gracia und ihn
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