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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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unsicheren Glaubenskantonisten eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das sorgsam gepflegte, doch heikle Gleichgewicht der Kräfte - schließlich lag Rom, die Hauptstadt der Christenheit, nur wenige Tagesreisen von Venedig entfernt.
    Angesichts dieses Zwiespalts verfielen die Dogen mit diplomatischer Schläue auf den Ausweg, für den jüdischen Teil der Bevölkerung ein eigenes Quartier im sumpfigen Stadtteil Cannaregio einzurichten: das
ghetto nuovo,
so benannt nach einem Kanonengussplatz aus frühen Jahren. Bewehrt von hohen, starken Mauern, die vor fremden Blicken ebenso schützten wie vor ungesunden Glaubensvermischungen, konnten die Juden dort die Bräuche ihrer Väter pflegen, ohne sich vor irgendjemandem fürchten zu müssen. Getrennt von den Christen, beteten sie in ihren Synagogen, heiligten den Sabbat und kauften Fleisch von Metzgern, die das Schlachtvieh schachteten, wie das Gesetz es verlangte. Bei Tag durften sie unbehelligt das Tor passieren, um in der Stadt ihren Geschäften nachzugehen, und erst wenn die Abendglocken läuteten, sahen sie sich genötigt, in ihr Viertel zurückzukehren - wer nach dem Ave außerhalb des Ghettos mit dem gelben Judenhut angetroffen wurde, dem drohte schwere Strafe. Dabei stand es jedem Juden frei, sich sein eigenes Leben zu wählen. Kein Marrane, der sich entschloss, ins Judenviertel zu ziehen, konnte vor Gericht der Ketzerei bezichtigt werden. Umgekehrt war kein Converso gezwungen, sich zum jüdischen Glauben zu bekennen, wenn er als Christenmensch zu leben wünschte. War er bereit, dem Gott des Volkes Israel abzuschwören, um sich dem dreifaltigen Gott, dem Papst und der katholischen Kirche anzuschließen, genoss er nahezu uneingeschränkt die Bürgerrechte der Serenissima.
    Seit dem Jahre 1516 galt diese ausgeklügelte, sinnreiche Regelung, welche die Juden von den Christen im Glauben schied und ihnen dennoch ein gemeinsames Wirken für die Belange der allerdurchlauchtigsten Republik des heiligen Markus ermöglichte. Doch keine Mauer war hoch und stark genug, um die Menschen vor dem Wankelmut in ihrer Seele zu bewahren. So wie in Venedig Land und Meer in- und miteinander verschwammen, verwirrten sich in manchem Herzen die Elemente des Lebens selbst, Gut und Böse, Recht und Unrecht, wahrer und falscher Glaube ...
     

2
     
    »Ich bin so glücklich, Euch wohlbehalten wiederzusehen, Dona Gracia«, sagte Rabbi Soncino. »Und auch Euch, Dona Brianda. Wie lange ist das her, dass wir in Lissabon Abschied voneinander genommen haben?«
    »Das müssen über zehn Jahre sein«, sagte Brianda, »wenn nicht mehr.«
    »Nein«, erwiderte Gracia. »Genau neun. Reyna war schon sieben, als wir die Heimat verlassen mussten.« »Herrje, wie die Zeit vergeht«, seufzte Rabbi Soncino. »Alt und grau bin ich geworden. Nur Ihr habt Euch nicht verändert - keine einzige Falte, alle beide. Aber sagt, wie war die Reise? Wurdet Ihr überfallen?«
    Vor wenigen Stunden erst waren die Schwestern mit ihrem Tross in Venedig angekommen, einschließlich Reyna und José - nachdem sie sich in Straßburg verpasst hatten, waren sie in der Augsburger Fuggerei endlich zusammengetroffen, rechtzeitig vor der Überquerung der Alpen. Während die Abendsonne sich bereits über die Lagune senkte, um die Stadt mit ihren Wasserstraßen in ein rotgoldenes Licht zu tauchen, hatte eine Gondel sie vom Festland zur Locanda della Luna gebracht, einem Gasthof, von dem aus in früheren Zeiten die Tempelritter zu ihren Kreuzzügen ins Morgenland aufgebrochen waren und der nur wenige Schritte vom Markusplatz entfernt lag. Offenbar hatte sich die Ankunft der Reisegesellschaft wie ein Lauffeuer in Venedig herumgesprochen, Rabbi Soncino hatte sie schon auf der Treppe des Gasthofs erwartet. Während José im Kontor der Firma nach dem Rechten sah und Reyna ihre Cousine La Chica zu Bett brachte, hatten sie sich nach Abendmahl und Gebet auf dem Balkon der Locanda zusammengesetzt, um ihr Wiedersehen zu feiern. »Zweimal hat man versucht, uns auszurauben«, erzählte Brianda, »einmal in Flandern und einmal im Elsass, als ich noch allein mit La Chica unterwegs war. Und in den Alpen mussten wir die Fuhrwerke zerlegen, damit Maulesel sie über die Pässe tragen konnten. Als wir auf der anderen Seite waren, hatte ich Angst, dass wir die Fuhrwerke nie wieder ...«
    »Von der Reise können wir später erzählen«, fiel Gracia ihr ins Wort. »Sagt uns bitte eines, Rabbi Soncino: Habt Ihr Nachrichten aus Antwerpen?«
    Bei der Frage

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