Die Gottessucherin
auf welcher Seite der Mauer?« Er machte eine Pause und schaute sie an, erst Brianda, dann Gracia. »In der Stadt - oder im Ghetto?«
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Kaum hatte sich in den Salons und Kontoren Venedigs die Nachricht verbreitet, dass sich die Firma Mendes mit ihrem gewaltigen Vermögen in der Lagunenstadt anzusiedeln gedenke, erschienen ganze Scharen von Dienstboten und Lakaien in der Locanda della Luna, um Einladungen zu überbringen. Ob Juden oder Christen, Kaufleute oder Aristokraten, Ausländer oder Italiener - jeder, der etwas auf sich hielt, wollte die reichen und berühmten Schwestern kennenlernen, jeder sie in seinem Palazzo empfangen!
Die ersten Wochen nach der Ankunft vergingen wie im Rausch. Die Venezianer gaben Unsummen aus, um die Neuankömmlinge mit ihrem Reichtum zu beeindrucken und sich gegenseitig in der Kunst zu überbieten, von diesem Reichtum sinnfälligen Ge brauch zu machen. Maskenbälle folgten auf Gesangsdarbietungen, Tableaux vivants auf Rezitationen, Theateraufführungen auf Karten- und Glücksspielabende. Brianda gingen die Augen über. Wie die Frauen gekleidet waren! Keine Spur jener düsteren Strenge, die im kalten, zugigen Flandern allgegenwärtig war. Die Venezianerinnen schienen sich weder um die Predigten der Pfarrer noch um die Mahnungen der Rabbiner zu scheren. Sie bleichten und färbten ihr Haar und türmten es mit goldenen Spangen hoch über ihre Köpfe; sie schminkten ihre Lippen mit Karmesin, die Augen mit Kohle und trugen Kleider mit so tiefen Ausschnitten, dass sie den halben Busen entblößten; sie waren mit Perlen und Juwelen behangen, und während sie sich mit kunstvoll bemalten Fächern Luft zufächelten, warfen sie ihren Verehrern verheißungsvolle Blicke zu und gaben ihnen mit ihren parfümierten Spitzentaschentüchern geheime Zeichen. Noch nie in ihrem Leben, weder in Lissabon noch in Antwerpen, hatte Brianda so viel Schönheit gesehen, ein solches Übermaß an Luxus und Lebenslust, und in manchen Augenblicken, in denen sie vergaß, was in den letzten Monaten geschehen war, regte sich in ihrem Herzen wieder jenes beglückende, längst verloren geglaubte Gefühl, dass das Leben ein wunderbares Geschenk war, ein bunter, reichgedeckter Gabentisch.
Geblendet vom Zauber der Lagunenstadt, dachte sie keinen Moment daran, ins Ghetto zu ziehen. Was hatte sie dort zu suchen? Sie war ja nicht einmal sicher, ob es Gott überhaupt gab. Außerdem durften die Ghettojuden keine bunten Kleider tragen, nur schwarze, schmucklose Gewänder, noch schlimmer als die Mode in Antwerpen ... Kurz entschlossen quartierte Brianda sich im Palazzo Gritti ein, einem herrschaftlichen Palast in der Gemeinde San Marcuola, unweit der Zecca, der staatlichen Münze, gelegen. Die Prunkfassade mit den Bogenfenstern und Baikonen schaute auf den Canal Grande hinaus, und die Empfangsräume erstreckten sich über zwei Stockwerke. Die Renovierung kostete ein Vermögen, Brianda musste Schulden aufnehmen, um die Handwerker und das Gesinde zu bezahlen, doch ebenso wie der jüdische Geldverleiher, der ihr die nötigen Summen gegen eine Verzinsung von sieben Prozent pro Quartal vorstreckte, vertraute sie fest auf die baldige Ankunft ihres Mannes. Ein Getreidehändler aus Straßburg hatte ihr versichert, dass Diogo am Leben sei - er selbst habe ihn mit eigenen Augen gesehen, in einem Wirtshaus in Augsburg, zusammen mit Anton Fugger. Brianda hoffte nur, dass Diogo vor Tristan da Costa in Venedig eintraf, um ihrem Herzen quälende Zweifel zu ersparen. Und Gracia? Für sie gestaltete sich die Wahl der Wohnung ungleich schwieriger. Die Aussicht, ins Ghetto zu ziehen, erschien ihr wie eine Verheißung: Dort würde sie als Jüdin unter Juden leben können, inmitten Tausender Glaubensbrüder, ohne Angst vor Bespitzelung und Verrat. Niemals würde dort ein Christ die Hand ihrer Tochter fordern, und selbst wenn die Inquisition in Venedig Einzug hielte, wäre sie vor dem Glaubensgericht sicher. Doch war es ihr wirklich vergönnt, nur an sich zu denken? Der Einzug ins Judenviertel kam einem öffentlichen Bekenntnis gleich. Wenn sie sich für das Ghetto entschiede, müsste sie den gelben Fleck an ihrem Kleid tragen, sobald sie das Tor zur Stadt hindurchschreiten würde. Wo immer sie erschiene, wäre sie als Jüdin gebrandmarkt, als eine Außenseiterin, die am Leben der Reichen und Mächtigen nicht wirklich teilhaben durfte. Wie aber sollte sie so ihre Geschäfte betreiben? Wie den neuen Hauptsitz der Firma aufbauen? Wie das Heer von
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