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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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steht!« »Nein, es steht geschrieben: >Der Herr wird dich zerstreuen unter alle Völker. Dünger auf dem Acker sollst du sein.<« Die Worte waren noch nicht verklungen, da sah Samuel die Soldaten. Mit gezogenen Säbeln, die in der Dunkelheit aufblitzten, stürmten sie den Niedergang herab unter Deck. Männer und Frauen kreischten vor Angst, Kinder und Greise fuhren aus dem Schlaf, nicht begreifend, was geschah.
    Samuel packte seinen Bruder am Arm und riss ihn in die Höhe. »Wir müssen hier raus!«
    Im Nu verwandelte sich das ganze Zwischendeck in einen Hexenkessel. Niemand blieb auf seinem Lager, alle rannten und schrien durcheinander, während die Soldaten wie Heuschrecken über ihre Opfer herfielen und mit ihren Waffen auf jeden einstachen, der sich bewegte. Schon sanken die ersten zu Boden. Samuel hatte nur ein Ziel: die Luke, die ins Freie führte ... Ohne sich um irgendetwas anderes zu kümmern, stieß er jeden beiseite, der ihm im Weg war, sprang über die Toten und Verwundeten hinweg, auf den Niedergang zu. Ein Offizier trat ihm entgegen, die Hand am Degen. Aber bevor er die Waffe ziehen konnte, spreizte Samuel seine Finger und stach ihm damit in die Augen. Brüllend wie ein Tier, taumelte der Offizier zurück, ein hilfloser Blinder, und ließ seinen Degen fallen. Samuel bückte sich und hob die Waffe auf. »Hinter dir!«, schrie Benjamin.
    Samuel fuhr herum. Ein Soldat stürzte mit einem Messer auf ihn zu. Samuel nahm den Degen mit beiden Händen, und mit einem einzigen Hieb schlug er dem Mann den Kopf ab.
    Plötzlich, einen Wimpernschlag lang, war der Weg frei. »Vorwärts! Beeil dich!«
    Benjamin rührte sich nicht, voller Entsetzen starrte er auf den abgeschlagenen Kopf zu seinen Füßen. Samuel schlug ihm ins Gesicht, damit er zu sich käme, trat und stieß ihn vor sich her, in die freie Gasse, den Niedergang hinauf.
    Lautes Sturmgeläut scholl ihnen an Deck entgegen. Wie bei einer Flut oder Feuersbrunst läuteten die Glocken sämtlicher Kirchen der Stadt - die Glocken des Jüngsten Gerichts. Samuel schaute sich um. Nur ein halbes Dutzend Juden hatte es ins Freie geschafft. Mit bloßen Fäusten setzten sie sich gegen ihre Verfolger zur Wehr, sprangen über Bord, um ihr Leben zu retten, während am Ufer die Speicher in Flammen aufgingen. »Los, spring!«, rief Samuel seinem Bruder zu. »Ich kann nicht ...« Wie angewurzelt stand Benjamin da, die Hände um die Reling gekrallt, die furchtgeweiteten Augen auf die schwarzen Fluten der Scheide gerichtet, wo im flackernden Widerschein des Feuers die ersten Köpfe aus dem Wasser auftauchten. »Ich ... kann doch nicht schwimmen ...« »Doch, du schaffst es!«
    Samuel riss ihn von der Reling los, es waren nur hundert Fuß bis ans Ufer, und obwohl der Bruder sich mit Armen und Beinen wehrte, packte er ihn am Hosenbund, um ihn über Bord zu werfen.
    Da blitzte eine Klinge auf. »Nein!«
    Er versuchte, den Angriff mit dem Stiefel abzuwehren - doch zu spät. Lautlos drang die Klinge in Benjamins Rücken. Noch während Samuel ihn im Arm hielt, spürte er, wie das Leben aus dem Körper seines Bruders wich. Aus großen, leeren Augen schaute er ihn an, versuchte, irgendetwas zu sagen, doch kein Wort kam aus seinem Mund, nur ein unverständliches Röcheln und ein feines, dünnes Rinnsal, das dunkel von seinem Kinn herabtropfte. »Benjamin ...«
    Samuel drückte ihn an sich, küsste sein Gesicht - da stieß ihn jemand in den Rücken. Benjamin entglitt seinen Händen und sackte zu Boden. »Über Bord!«
    Samuel drehte sich um. Eliahu Soarés stand hinter ihm, mit einem Säbel in der Hand, und wehrte einen Soldaten ab, der sich auf ihn stürzen wollte. »Mach endlich! Spring!«
    Noch bevor Samuel begriff, was geschah, verpasste Eliahu ihm einen Stoß, mit solcher Wucht, dass er über die Reling flog. Kalt schlugen die Wassermassen über ihm zusammen. Dann war nur noch nasse, tiefe Finsternis rings um ihn her.
     

Drittes Buch
Das Erbe
Venedig - Ferrara, 1545-1553
1
    Wie ein verwirrendes Gaukelspiel der Sinne entstieg Venedig dem Meer: »La Serenissima Repubblica di San Marco« - eine phantastische Schaumgeburt der Elemente, ein flirrendes, unwirkliches Traumgebilde aus Wasser und Licht, Marmor und Gold. Nirgendwo sonst auf der Welt gab es eine so dichtgedrängte Fülle Stein gewordener Grillen und Phantasmen zu bestaunen wie in dieser merkwürdigen Stadt, die sich, gut zwei Seemeilen vom Festland entfernt, auf einhundertzweiundzwanzig Inseln in der Lagune verteilte, einem

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