Die Gottessucherin
»Ist etwas passiert?« »Onkel Diogo ist tot.«
»Was redest du da?«, rief Gracia. »Man hat ihn doch gesehen! In Augsburg! Mit Anton Fugger!«
»Ein Agent war hier, aus Lyon. Er hat die Nachricht gebracht.« »Ein Agent? Wer? Tristan da Costa?« »Ich glaube, so heißt er.«
Gracia fasste nach der Lehne eines Stuhls, um sich festzuhalten.
Das musste ein Gerücht sein, eine gemeine, hinterhältige Lüge, die ihre Gegner in die Welt gesetzt hatten, um sie zu schwächen!
Während sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen, so schnell und verworren, dass sie zu keiner Empfindung fähig war, berichtete Reyna, was sie aufgeschnappt hatte: dass man Diogo wegen Hochverrats hingerichtet hätte ... in Antwerpen, auf dem Marktplatz ... weil er ein Attentat geplant habe ... auf Aragon, den Converso-Kommissar ... Samuel Usque sei dabei gewesen ...
»Wo ist Tante Brianda?«, fragte Gracia.
»In ihrem Ankleidezimmer. Sie wollte allein sein.«
»Ich gehe zu ihr. Kümmere du dich um La Chica.«
Gracia eilte die Treppe hinauf, während Reynas Worte in ihrem Innern widerhallten wie ihre Schritte im Haus von den hohen Marmorwänden.
Onkel Diogo ist tot ... Onkel Diogo ist tot ... Onkel Diogo ist tot ...
Außer Atem erreichte sie das Ankleidezimmer. Das Licht der Kerzen brach sich an den Wänden und warf gespenstische Schatten. Während sie an einer Säule lehnte, um Atem zu schöpfen, sah sie in einem Spiegel ihr eigenes Gesicht. Onkel Diogo ist tot ... Onkel Diogo ist tot ... Auf einmal erblickte sie in dem flackernden Kerzenschein ihren Geliebten, seine schwarzen Locken, seine Augen, wie er sie angeschaut hatte, in jener Nacht in der Mikwa, als sie in das Wasser getaucht war, um sich reinzuwaschen von ihrer Schuld. Diogo ist tot ... Diogo ist tot ...
Durch ein offenes Fenster wehte der Gesang eines Gondoliere. Gracia fröstelte. Und während sie auf die Tür starrte, hinter der ihre Schwester wartete, war es ihr, als würde jemand einen Schleier vor ihren Augen wegreißen, von einer Wahrheit, die sie selbst vor sich verborgen hatte. Diogo ist tot ...
Ja, in ihrem Herzen hatte sie es geahnt, dass er nicht mehr am Leben war, hatte es längst gewusst, seit dem Abend ihrer Ankunft, als sie auf dem Balkon der Locanda gesessen und das einsame, schmerzlich schöne Lied über dem Wasser gehört hatte. Diogo ... tot ...
Plötzlich setzten alle ihre Gedanken aus, und sie hatte nur noch Angst. Wie sollte sie Brianda gegenübertreten? Ihre Schwester hatte Diogo nie geliebt, aber er war ihr Ehemann gewesen - der Mann, der sie versorgte, der Mann, dem sie ihr Schicksal anvertraut hatte.
Gracia schloss für einen Moment die Augen. Dann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Tür.
Ihre Schwester stand am Fenster und blickte hinaus auf den Kanal, der wie auf einem Gemälde im Abendrot erglühte. Als Gracia den Raum betrat, drehte Brianda sich zu ihr um. Ihr Gesicht war blass, doch sie schien nicht geweint zu haben. »Hast du es schon gehört?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Gracia. »Reyna hat es mir gesagt.« Sie trat zu ihrer Schwester und legte einen Arm um sie. »Es ... es tut mir so leid.« Obwohl Diogos Tod ihr viel größere Schmerzen bereitete als Brianda, hatte sie nicht das Recht, ihre Gefühle vor ihrer Schwester zu zeigen.
Brianda rührte sich nicht. Als wäre sie eine Marmorfigur, verharrte sie unter der Berührung.
»Du hast ihn auf dem Gewissen«, flüsterte sie. »Nur weil du nicht wolltest, dass Reyna diesen Spanier heiratet, musste er sterben.«
»Das ... das ist nicht wahr«, stammelte Gracia. Sie ließ ihre Schwester los, und während sie einen Schritt zurücktrat, krallte sie ihre Hände in die Röcke, um nicht in Tränen auszubrechen. »Es ... es war nicht nur mein Plan. Diogo hat es doch auch so gewollt.«
Brianda schüttelte den Kopf. »Dein Wahn hat ihn dazu getrieben. Nur du hast ihn dazu gebracht.«
Gracia wünschte, ihre Schwester würde schreien, sie schlagen oder ihr ins Gesicht spucken. Doch Brianda schaute nur mit großen, leeren Augen hinaus auf den Kanal, wo die Gondeln und Lastkähne in der Abendsonne vorüberzogen, wie jeden Tag, als wäre nichts geschehen.
»Wie soll jetzt unser Leben weitergehen?«, fragte sie mit tonloser Stimme.
Gracia hatte das Gefühl, als würde sich eine unsichtbare Hand um ihr Herz schließen und langsam, langsam zudrücken. All die Fragen, die sie sich in den letzten Wochen gestellt hatte: Wie sollte sie Diogo begegnen? Durfte sie ihn weiter lieben? Musste
Weitere Kostenlose Bücher