Die Gottessucherin
sie Brianda die Wahrheit sagen? - all diese Fragen brauchten jetzt keine Antworten mehr. Diogo würde nicht einmal mehr die Gläser sehen, die sie in Murano gekauft hatte. Als sie sich vom Fenster abwandte, erblickte sie in Briandas Hand ein Kuvert.
»Was ist das?«, fragte sie. »Von Diogo?«
»Sein Testament«, erwiderte ihre Schwester. »Samuel Usque hat es im Judenhaus von Antwerpen gefunden, in irgendeinem Mauerversteck, zusammen mit Diogos Anweisung, dass er nach Lyon fahren solle, um dort Tristan zu suchen.« Sie streckte ihr den Umschlag entgegen. »Willst du es lesen?« Gracia starrte auf das Kuvert, auf die drei kleinen, unscheinbaren, unfassbaren Worte, die darauf geschrieben standen, in Diogos verschnörkelter Handschrift:
Mein Letzter Wille ...
Wie oft hatte sie diese Schrift gelesen, auf Frachtbriefen und Rechnungen der Firma. Doch nie hatte Diogo ihr einen persönlichen Brief geschrieben, ihr nie mit dieser Schrift gestanden, dass er sie liebe.
Während die Tränen unaufhaltsam in ihr aufstiegen, schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Das ist für dich, du bist seine Frau.« Dann drehte sie sich um, und bevor die Verzweiflung sie übermannte, eilte sie hinaus.
5
Im Beisein meines Notarius William van Strict, wohnhaft in der Reyndersstraat zu Antwerpen, gebe ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und mit dem Segen des allmächtigen Gottes allhier meinen Letzten Willen kund und zu wissen.
Ad primum: Wie guter Brauch es erheischt, hinterlasse ich aus meinem privaten Vermögen dreitausendzweihundert Golddukaten für die Armen der Stadt. Aus den Zinsen dieses Kapitals sind alljährlich zweihundert Dukaten an Bedürftige zu spenden, aufgeteilt zu jeweils drei gleichen Teilen: ein Teil für die Pflege und Ernährung mittelloser Häftlinge, ein Teil zur Kleidung von Obdachlosen, ein Teil zur Ausstattung elternloser Mägde mit einer Mitgift, welche sie zur Ehe befähigt. Sollten die erforderlichen Summen nicht aus dem in Antwerpen deponierten Kapital erwachsen, möge man dafür Sorge tragen, dass die Agenten meines Handelshauses im Ausland die Differenz ausgleichen. Ad secundum: Was die Aufteilung der Firma Mendes angeht, so erkläre ich hiermit, dass die eine Hälfte allen Besitzes meiner Schwägerin Dona Gracia Mendes und ihrer Tochter Reyna gehört, die andere Hälfte aber mir, wie im Testament meines Bruders Dom Francisco Mendes vor dessen Ableben richtig und gewissenhaft verfügt. Ad tertium: Ferner erkläre ich, dass ich für den Fall meines Todes zur alleinigen und ausschließlichen Sachwalterin meines Anteils am Vermögen der Firma Mendes sowie meines persönlichen Eigentums, sowohl die beweglichen als auch die unbeweglichen Besitztümer betreffend, einschließlich sämtlicher daraus erwachsender Verbindlichkeiten, gleichgültig an welchem Ort, meine Schwägerin Dona Gracia Mendes bestimme, Witwe meines verstorbenen Bruders Dom Francisco Mendes, im Vertrauen auf ihre Umsicht, Erfahrung, Tüchtigkeit und Redlichkeit. Ihr zur Seite stelle ich ihren Neffen Dom José Nasi, welcher sie in all ihren Tätigkeiten und Unternehmungen zum Wohle der Firma und der Familie Mendes nach Kräften unterstützen möge. Dies ordne ich an, um sicherzustellen, dass alles, was in der Vergangenheit geschaffen wurde, in Zukunft seine wohl gelungene Fortsetzung finde. Um dieser Hoffnung und Erwartung Sorge zu tragen, ernenne ich Dona Gracia außerdem zum Vormund meiner Tochter La Chica sowie zur Sachwalterin von deren gesamtem Vermögen, bis diese ihr fünfzehntes Lebensjahr vollendet hat oder in den heiligen Stand der Ehe tritt.
Schließlich und endlich ordne ich an, dass meinem Eheweib Brianda Mendes, geborene Nasi, aus meinem privaten Vermögen eine Summe auszuzahlen ist, welche der Höhe der von ihr in die Ehe eingebrachten Mitgift entspricht, nebst Zins und Zinseszins, zu ihrer alleinigen freien und beliebigen Verfügung.
Aufgeschrieben und beglaubigt am 28. Juni,
im Jahre des Herrn 1543
Diogo Mendes
6
Die Verfügungen ihres Mannes trafen Brianda wie Schläge ins Gesicht. Diogos Letzter Wille kam einer Entmündigung gleich. Für jede Ausgabe, für jeden Dukaten, für jeden noch so kleinen Wunsch, den sie sich erfüllen wollte, musste sie fortan ihre Schwester fragen. Wovon sollte sie ihren Unterhalt bestreiten? Wovon die Schulden für den Palast begleichen? Wovon die Handwerker bezahlen? Ihre Mitgift reichte hinten und vorne nicht. Noch schlimmer aber als all diese praktischen
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