Die Gottessucherin
Als auch Gracia schwieg, forderte der Gerichtsdiener sie auf, an einem Tisch Platz zu nehmen, wo das Urteil in zwei Ausfertigungen auslag. Beide Dokumente trugen bereits Briandas Unterschrift. Ohne den Text noch einmal zu lesen, nahm Gracia die Gänsefeder, die der Diener ihr reichte, und bestätigte das Urteil mit ihrem Namen, um den elenden Streit zu beenden - ein für alle Mal.
Sie tauchte den Federkiel gerade in das Tintenfass, da ertönte hinter ihr eine Stimme.
»Im Namen des allmächtigen Gottes!«
Beim Klang dieser Stimme lief Gracia ein Schauer über den Rücken. Entsetzt drehte sie sich um. In der Tür stand Cornelius Scheppering. Doch wie sah er aus? Fast hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Sein Gesicht, einst ein blasses Bild falscher Milde, war ein rotgeflecktes Schlachtfeld, verwüstet von Pusteln und Schwären, aus denen überall Eiter quoll. »Was wollt Ihr?«, fragte der Doge.
Cornelius Scheppering zeigte mit dem Finger auf Gracia. »Im Namen des allmächtigen Gottes erhebe ich Klage gegen dieses Weib.«
»Was werft Ihr Gracia Mendes vor?«
»Ketzertum und Proselytenmacherei. Dieses Weib hat Tausende und Abertausende getaufter Christen zur Abkehr vom katholischen Glauben angestiftet und nach Konstantinopel verschleppt, ins Reich des muselmanischen Antichristen.« »Was sind Eure Beweise?«
Cornelius Scheppering winkte einen Mönch herbei, der ein Konvolut bedruckter Seiten auf dem Richtertisch ausbreitete. Gracia ahnte, was für Beweise das waren. Während der Mönch an seiner Fingerspitze leckte und zu blättern begann, spürte sie, wie die Angst ihr in den Nacken kroch. »Ein Buch?«, fragte der Doge mit erhobenen Brauen. »Das Zeugnis eines jüdischen Helfershelfers«, erwiderte Cornelius Scheppering. »Samuel Usque mit Namen. Er hat das Werk der Angeklagten gewidmet. Wenn Ihr erlaubt?« Er schlug die Titelseite auf, um die Zueignung vorzulesen. »Für unsere allerdurchlauchtigste Herrin, Dona Gracia Nasi, Herz und Seele im Leib unseres jüdischen Volkes ...«
Gracia ballte in ihrem Schoß die Fäuste. Als sie die Widmung zum ersten Mal gelesen hatte, in derselben Nacht, in der ihr Verfasser ums Leben gekommen war, hatten die Worte sie zu Tränen gerührt. Doch nun, als ihr teuflischer Widersacher sie aussprach, jede Silbe wie unter Brechreiz aus sich hervorwürgend, war es, als hätten die Buchstaben sich in seinem Mund in verdorbene Speisen verwandelt - ein solcher Ekel und Widerwille beherrschten Cornelius Schepperings verwüstetes Gesicht. »In diesem Buch«, erklärte der Dominikaner und tippte mit seinem knochigen Finger auf das Konvolut, »beschreibt der Autor sämtliche Verbrechen der Angeklagten.« Er hob den Kopf und schaute in die Runde der Richter. »Seid Ihr bereit zu hören?« »Nein!«
Gracia sprang auf, um Einspruch zu erheben, doch der Doge gebot ihr mit einer Bewegung seiner beringten Hand zu schweigen. Während sie auf ihren Stuhl zurücksank, wandte der Doge sich wieder an Cornelius Scheppering und nickte ihm zu. »Tragt Eure Beweise vor!«
36
Ist je einem Auge die Gnade Gottes in menschlicher Gestalt erschienen? Dir, Volk Israel, wurde dies Wunder zuteil, um dir zu helfen in deiner Bedrängnis und Not. Hat je ein Auge geschaut, dass ein Weib sein eigen Leben für das Leben seiner Brüder und Schwestern wagte, um den Verfolgten beizustehen, mit grenzenloser Güte und Erbarmen, einer Esther gleich? Dir, Volk Israel, hat der Herr aus seiner himmlischen Heerschar ein solches Weib geschickt, in der zarten und keuschen Gestalt der vielgepriesenen Jüdin Gracia Nasi.
Ihr Wagemut hat deine bedürftigen Kinder, zu arm und zu schwach für die Flucht vor dem Scheiterhaufen, in Portugal ermuntert, die lange und beschwerliche Reise anzutreten. In ihrer Großmut hat sie die Flüchtlinge, die mittellos und seekrank und schreckensstarr in Flandern landeten, mit Geld und allem versorgt, dessen sie bedurften. Sie hat Schiffe an Italiens Küsten geschickt, beladen mit Brot und stärkenden Speisen, um die darbenden Glieder deines Volkes aus dem Grabe zu erwecken, welches der Hunger ihnen schon bereitet hatte. Mit goldener Hand und engelgleichem Sinn hat sie in ganz Europa Scharen unseres Volkes aus den Abgründen von Elend und Not emporgehoben. Und niemals ist sie müde geworden, ihre Brüder und Schwestern zu geleiten, bis diese an ein sicheres Ufer gelangten und unter ihrem Schutz zurückfanden zum Gehorsam gegenüber den Geboten des einen wahren und ewigen Gottes
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