Die Gottessucherin
der Lagunenstadt, ohne dass jemand sie oder ihre Tochter in ihrem Palazzo behelligte. Erleichtert lobte sie Gott für seinen Beistand - Gott und auch den Dogen, der die dominikanischen Glaubenshunde offenbar an die Kette der Vernunft gelegt hatte. Selbst im Kontor der Firma konnte sie ungehindert ein und aus gehen, um sich mit ihrem Agenten Duarte Gomes um die Geschäfte zu kümmern. Doch das war nicht die einzige Wendung zum Guten. Gracia hatte damit gerechnet, dass Reyna ihre Tante wiedersehen wollte, sobald sie in Venedig wären. Die beiden waren ja immer ein Herz und eine Seele gewesen. Doch zu ihrer Verwunderung äußerte Reyna kein einziges Mal den Wunsch, Brianda zu besuchen. Auch als schließlich der Tag kam, den der Zehnerrat für die Verhandlung festgesetzt hatte, machte Reyna keine Anstalten, ihre Mutter zu begleiten.
Froh, dass ihr zusätzliche Auseinandersetzungen erspart blieben, begab sich Gracia zum Dogenpalast, um den Ferrareser Kompromiss mit ihrer Schwester zu bestätigen. Ein Gerichtsdiener, der sie in dem majestätisch ernsten Innenhof der Palastanlage empfing, führte sie über eine breit geschwungene Treppe, die von zwei kolossalen Steinfiguren bewacht wurde, hinauf zum Sitzungssaal und wies sie dort an, vor einer hohen Flügeltür zu warten. Wie würde es sein, Brianda nach so langer Zeit wiederzusehen? Plötzlich nervös, setzte Gracia sich auf eine Bank. Dieses Gebäude war ein einziger erdrückender Machtbeweis. Jeder Mensch, wie bedeutend er auch sein mochte, musste sich in dieser kalten, allen vertrauten Dimensionen hohnsprechenden Marmorpracht erbärmlich fühlen wie ein Wurm. Doch Gracia war nicht bereit, sich einschüchtern zu lassen. Sie warf den Kopf in den Nacken und schaute sich um. Immer wieder wanderte ihr Blick von den Deckenfresken, die irgendwelche griechischen oder römischen Götter darstellten, zu der geschlossenen Flügeltür, hinter der das Gericht tagen würde. Neben dem Eingang des Saals, kunstvoll eingelassen in das Mauerwerk, befand sich das »Löwenmaul«, ein düster steinernes Antlitz, durch dessen Rachen man heimlich Anzeigen einwerfen konnte.
Ob auch Brianda von dieser feigen Möglichkeit Gebrauch gemacht hatte, um ihre Klage wegen Juderei zu erheben? Im Geist sah Gracia ihre Schwester, wie sie sich auf leisen Sohlen zu dem Löwenmaul schlich, um es mit einem sorgfältig verschlossenen Brief zu füttern, und sofort mischten sich Enttäuschung und Wut in ihre Nervosität. Bei der Vorstellung, dass Brianda gleich vor ihr stehen würde, musste sie sich beherrschen, um nicht Hals über Kopf davonzulaufen.
Während ihr Herz bis zum Zerspringen klopfte, hörte sie plötzlich Schritte. Sie fuhr herum. War das ihre Schwester? Doch statt Brianda trat nur ein Gerichtsdiener auf sie zu.
»Die Verhandlung beginnt!«
Gracia erhob sich von ihrem Platz und folgte dem Diener. Der Zehnerrat war bereits im Sitzungssaal versammelt. Der Doge selbst, Francesco Dona, führte den Vorsitz. Er saß unter dem Deckenbildnis eines Blitze schleudernden Zeus. Aber wo war Brianda? Auf die Frage nach ihrer Schwester teilte der Doge ihr mit, dass eine Anhörung der Parteien sich erübrige - das Gericht habe den Fall eingehend geprüft und ein Urteil gefällt. Mit einer Stimme, weich und schmeichelnd wie Seide, las er den Beschluss vor: »Das Gericht verpflichtet Gracia Mendes, an ihre Schwester Brianda Mendes die Summe von achtzehntausendeinhundertdreiundzwanzig italienischen Scudi auszuzahlen, entsprechend der von Brianda Mendes in ihre Ehe mit Diogo Mendes eingebrachten Mitgift nebst Zins und Zinseszins, die seit der Eheschließung angelaufen sind. Ferner wird Gracia Mendes dazu verurteilt, einhunderttausend Golddukaten bei der Zecca zu hinterlegen, als Pfand auf das Erbe ihrer Nichte La Chica, die bis zum Tag ihrer Volljährigkeit, an dem dies Erbe zur Auszahlung gelangen soll, der Vormundschaft ihrer leiblichen Mutter Brianda Mendes unterstellt wird. Diese wiederum verpflichtet sich ihrerseits, künftig keine wie auch immer gearteten Forderungen an ihre Schwester Gracia Mendes zu stellen.«
Die Worte rauschten an Gracias Ohr vorbei, ohne in ihren Kopf zu dringen. Warum war Brianda nicht gekommen? Schämte sie sich für ihren Verrat? Der Gedanke, dass sie offenbar noch größere Angst vor dem Wiedersehen hatte, erfüllte Gracia mit bitterer Genugtuung.
»Erhebt jemand Einwand gegen den Beschluss des Gerichts?«, fragte der Doge.
Die Mitglieder des Zehnerrats schüttelten die Köpfe.
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