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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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    Gracia schloss das Buch auf ihrem Schoß. Die Dämmerung des Abends füllte die hohen, leeren Räume ihres Palastes, so dass die Sehkraft ihrer Augen nicht ausreichte, um weiterlesen zu können. Aber wozu sollte sie auch lesen? Sie kannte die Geschichte ja, Wort für Wort. Weil es ihre eigene Geschichte war. Obwohl der Einband im Dämmerlicht vor ihren Augen verschwamm, konnte sie den Blick nicht von dem Buch lassen. Mit welchem Stolz hatte Samuel Usque ihr sein Werk überreicht -das ganze Schicksal des Volkes Israel, all die Kämpfe und Leiden seiner Kinder, seit Anbeginn der Zeiten, zur Tröstung und Linderung ihrer Not, in Verheißung einer besseren Zukunft... Samuel hatte dafür sein Leben gelassen. Und jetzt wurde ihr daraus ein Strick gedreht: Die Lobpreisungen, die er einst zu ihrem Ruhm verfasste, hatte Cornelius Scheppering in unwiderlegbare Beweise verwandelt, um sie ans Messer zu liefern. Wie war eine solche Niedertracht möglich? Gracia kannte den Grund, und er brannte schmerzlicher in ihren Eingeweiden, als es ein Becher Essig vermocht hätte.
    Sie klappte das Buch zu und stand auf. Sie musste sich bewegen!
    Und während ihre Schritte von den hohen Wänden widerhallten, erfüllte sie nur ein einziger, dumpfer Gedanke: Fleisch von ihrem Fleische, Blut von ihrem Blute ... Sie Närrin! Wie hatte sie nur so dumm sein können, ihrer Schwester zu vertrauen! Diesem falschen, hinterhältigen Luder! Diesem Weib, das gegen alle jüdischen Gesetze verstieß, die Gott seinen Kindern gegeben hatte ... Das sich mit unbedecktem Haar auf der Straße zeigte wie eine gemeine Hure ... Das sich weigerte, ihr zu gehorchen und nach Konstantinopel auszuwandern ... Das lieber sterben würde, als im Ghetto wie eine Jüdin zu leben ...
    Um sich zu beruhigen, trat Gracia ans Fenster und schaute hinunter auf den Kanal. An der Anlegestelle vor ihrem Palast waren bewaffnete Soldaten postiert, genauso wie vor der Tür ihres Salons. Man hatte sie unter Hausarrest gestellt, das Vermögen der Firma Mendes vollständig beschlagnahmt, das Hafenkontor geschlossen. Der Zehnerrat hatte den Beschluss dazu gefasst, gleich nachdem Cornelius Scheppering seine Klage erhoben hatte. Sie wollten sicher sein, dass Gracia nicht heimlich die Stadt verließe. Sie schlug sich mit den Fäusten gegen die Stirn. War das wirklich erst heute Morgen gewesen? Nur um ein Haar war sie den Bleikammern entkommen, jenem berüchtigten Gefängnis, das an den Dogenpalast grenzte und in das der Mönch sie werfen lassen wollte wie eine gemeine Verbrecherin. Als Preis für die Vergünstigung hatte er verlangt, dass Reyna für die Dauer des Prozesses in einem Nonnenkloster untergebracht werde, bei götzendienerischen Dominikanerinnen, die mit dem Jesuskind um ihre schutzlose Seele buhlen würden. Gracia hatte keine Möglichkeit gehabt, sich dagegen zu wehren. Für den Fall, dass sie ihre Zustimmung verweigere, so hatte man ihr gedroht, würde Reyna unter die Vormundschaft Briandas gestellt. Vor der Tür wurden Kommandos und Säbelrasseln laut. Gracia wusste, jetzt wurden die Wachen abgelöst. Das Gebrüll war ihr so zuwider, dass sie sich die Ohren zuhielt, bis die Befehle verstummten. Der Prozess sollte noch in diesem Sommer eröffnet werden. Aber würde es überhaupt einen Prozess geben? Das Urteil stand ja sowieso schon fest. Denn nicht der Zehnerrat würde über sie zu Rate sitzen, sondern das Glaubensgericht. Und der Inquisitor, Cornelius Scheppering, war nicht nur ihr Ankläger, sondern auch ihr Richter. Andere an ihrer Stelle würden vielleicht mit einer Geldbuße und dem Büßerkreuz oder schlimmstenfalls mit Verbannung davonkommen. Doch damit würde ihr Widersacher sich nicht begnügen. Briandas Anklage gab ihm Gelegenheit, Gracia Mendes endgültig zu vernichten, mit den Beweisen, die Samuel Usque in seinem Buch niedergeschrieben hatte, auf ewig und für alle Zeit.
    Sie starrte auf das Wasser, das die Mauern ihres Palastes mit dunklem Plätschern sanft umspülte. In dieser Stadt, in der Holz so knapp und wertvoll war wie fester Grund und Boden, wurden Ketzer nicht verbrannt, sondern ersäuft, irgendwo draußen im Meer, in schwarzer, finsterer Nacht ...
    Erschöpft schloss sie die Augen. Warum hatte Gott sie verlassen? Obwohl es ihre ganze Kraft erforderte, hob sie die Hände zum Himmel, um zu beten. Was immer sie auf Erden verlieren mochte: Geld, die Liebe ihrer Schwester, ja selbst ihr eigenes Leben -was zählte all dies im Vergleich zum Gehorsam im Glauben?

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