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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Hauptstadt wieder für die Marranen geöffnet, von deren Zuzug er sich stete Mehrung seines Reichtums versprach, doch angesichts des Sturmwinds der Reformation, der mit immer größerer Macht aus den Ländern nördlich der Alpen blies, erstarkten all jene Kräfte im Schoß der katholischen Kirche, die jedwedem Ketzertum gleich welcher Couleur Einhalt zu bieten versuchten. Der Aufstieg Carafas zum einflussreichsten Kardinal der Kurie ging einher mit einem immer schnelleren Vorschreiten der Inquisition, die sich wie eine Landplage in den Fürstentümern diesseits und jenseits des Apennin ausbreitete. Auch Herzog Ercole, der in leidenschaftlicher Liebe zu einer fünfzehnjährigen Schuhmachertochter entbrannt war und darum kaum noch auf seine Frau, aber immer mehr auf seine Minister hörte, spielte bereits mit dem Gedanken, das Glaubensgericht in seinem Staate zuzulassen, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, wann er der Verlockung erliegen würde, sich mit Hilfe der Dominikaner am Besitz der Apostaten zu bereichern. Dann allerdings müsste Gracia ihre Zelte in der neuen Heimat abbrechen. Da in Rom, dem Herzen der katholischen Christenheit, die Inquisition kurioserweise noch nicht hatte Fuß fassen können, hatte Gracia für den Fall, dass Ercole endgültig der Geldgier seiner Minister statt dem Rat seiner Frau folgte, vom Papst die Erlaubnis erwirkt, mit ihren Angehörigen sowie den Resten ihrer Firma unbehelligt durch die vatikanischen Länder reisen zu dürfen.
    Ausgestattet mit einem päpstlichen Geleitbrief, stand es ihr also frei, Italien über den Hafen von Ancona zu verlassen. Außer Konstantinopel kamen als mögliche Zufluchtsorte noch Saloniki und Jerusalem in Betracht. Saloniki war die Stadt mit den meisten Juden in Europa, und in Jerusalem, das ebenfalls unter osmanischer Herrschaft stand, waren sie sogar ausdrücklich willkommen. Sie sollten sich am Wiederaufbau der Stadt beteiligen, die ja seit Urzeiten die Hochburg ihres Glaubens war und nun, nach jahrhundertelangem Verfall, laut Willensbekundung des Sultans bald wieder in altem Glanz erstrahlen würde. Aber sollte Gracia ohne ihr Geld ins Morgenland aufbrechen? Auf die Gefahr, dort aus Mangel an Mitteln ihren Traum vom eigenen Land für das Volk Israel aufgeben zu müssen? Oder sollte sie zuvor nach Venedig reisen, zur Unterzeichnung des Vertrags, sich zumindest die halbe Erbschaft zu sichern? ...
    Wenn nur der Sultan geantwortet hätte! Als seine Untertanin wäre sie vor dem Zugriff der Inquisition sicher und imstande, in Venedig um ihr Recht zu kämpfen. Aber aus dem Orient kam nur Schweigen. Obwohl José seit Monaten im Heerlager des Sultans lebte, war es ihm offenbar noch nicht gelungen, zum Herrscher der Osmanen vorzudringen.
    Gracia hatte beschlossen, bis zum Pessachfest auf Antwort zu warten, doch als sie am Sederabend immer noch nichts gehört hatte, beschloss sie, ihr Schicksal in Gottes Hand zu legen. Noch in derselben Woche brach sie mit ihrer Tochter Reyna nach Venedig auf. Wenn sie an ihrer Mission festhalten wollte, hatte sie keine andere Wahl. Sie musste sich in die Höhle des Löwen begeben, oder sie liefe Gefahr, alles Geld für immer zu verlieren. Als Gracia in San Marco das Boot verließ und die Piazza überquerte, um nach Hause zu gelangen, musste sie voller Wehmut an Diogo denken. Der riesige Platz vor der Basilika war ein einziges Gurren und Flattern: Tausende von Tauben - genau wie ihr Geliebter es ihr einst versprochen hatte, vor langer, langer Zeit. Mit einem Seufzer setzte sie ihren Weg fort. Alles, was sie hier sah und hörte, vermehrte nur das Gefühl der grenzenlosen Einsamkeit, das sie seit ihrer Ankunft empfand. War die Mission, die Gott ihr aufgebürdet hatte, nicht viel zu schwer für ihre schmalen Frauenschultern?
    Sie hatte das Ende der Piazza fast erreicht, da landete eine Taube direkt vor ihren Füßen. Das Gefieder war schneeweiß, nur ein grünlich graues Band zierte die Kehle. Mit ruckendem Kopf vergewisserte sich der Vogel, dass nirgendwo Gefahr lauerte. Dann pickte er ein paar Körner vom Boden und erhob sich wieder in die Lüfte.
    Während die Taube sich höher und höher in den blauen Frühlingshimmel schwang, schaute Gracia ihr nach. Konnte das etwas anderes als ein gutes Omen sein?
     

35
     
    Nachdem Gracia durch einen Boten dem Zehnerrat ihre Ankunft gemeldet und das Gericht um einen Verhandlungstermin zur endgültigen Klärung ihres Erbschaftsstreits ersucht hatte, verbrachte sie über einen Monat in

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