Die Gottessucherin
Urteil verkündet war, begann Gracia mit den Reisevorbereitungen. Zusammen mit ihrer Tochter Reyna und Rabbi Soncino wollte sie zu den Türken auswandern, ins Osmanische Reich, wo sie mit dem Geld der Firma Mendes die Mission erfüllen wollte, die Gott ihr aufgetragen hatte: dem in alle Winde zerstreuten Volk Israel ein eigenes Land zu geben, damit es endlich Recht und Frieden finden konnte in der Welt. Nachdem Gracia zur Sicherung ihres Eigentums alle in Italien befindlichen Besitztümer ihres Handelshauses in die Hände des Agenten Duarte Gomes gelegt und diesen verpflichtet hatte, sämtliche Einkünfte nach Konstantinopel weiterzuleiten, trat sie im Sommer des Jahres 1552, ausgestattet mit dem Geleitschutz Sultan Süleymans, die Reise ins Morgenland an. Da es Nachricht von Piratenbanden gab, die seit Monaten die Meereswege unsicher machten, hatte sie mit Rücksicht auf das enorme Vermögen, das sie mit sich führen würde, beschlossen, den größten Teil der Strecke auf dem zeitraubenden und beschwerlichen Landweg zurückzulegen. Auf der Via Egnatia, der alten römischen Handelsstraße, die über Ancona und Ragusa führte, wo Gracia und ihre Angehörigen in Niederlassungen der Firma Mendes Zwischenstation machen konnten, wollten sie nach Saloniki und schließlich nach Konstantinopel ziehen, in die Hauptstadt des Osmanischen Reiches.
Auf dem Canal Grande herrschte ein Betrieb von Gondeln und Schiffen wie sonst nur zum Karneval oder zur »Sensa«, dem alljährlich am Himmelfahrtstag veranstalteten Volksfest, in dem die Serenissima die Vermählung von Land und Meer symbolhaft feierte, als Gracia zusammen mit ihrer Tochter Reyna und Rabbi Soncino sowie dem Gesandten des Sultans und einer Hundertschaft bewaffneter Begleiter schließlich Venedig verließ. Wohl die halbe Stadt sah ihrer Abreise zu, die an Aufwand und Gepränge dem Auszug einer regierenden Königin in nichts nachstand.
»Leb wohl«, flüsterte Brianda.
Sie stand am Fenster ihres Bilderkabinetts und schaute hinunter auf das Wasser des Kanals. Die schwarze Gondel ihrer Schwester glitt an der Spitze von zwei Dutzend schwerbeladenen Lastkähnen vorüber in Richtung Festland, wo die Kisten und Kästen mit ihrem Besitz für die Weiterreise über Land bis Ancona auf Fuhrwerke verladen würden. Brianda fröstelte. Was würde ihre Schwester wohl in diesem Moment empfinden? Sie versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, doch Gracia saß zwischen Reyna und Rabbi Soncino im Bug ihrer Gondel und schaute unverwandt in die Ferne, ohne zum Fenster hinaufzublicken. Zweimal noch hatte Gracia im Palazzo Gritti angeklopft, zweimal hatte Brianda sie abweisen lassen, und auch der Versuch, mit Hilfe von Rabbi Soncino sich mit ihr zu versöhnen, war an ihrer Ablehnung gescheitert. Sie hatte sich für Tristan entschieden, so wie sie sich schon einmal für ihn entschieden hatte. Weil es die einzige Möglichkeit war, mit dem Mann, den sie liebte, zusammenzuleben ... Brianda schaute den Booten nach, bis sie im Gewimmel verschwanden. Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Fenster ab. Wenn es einen Gott gab, dann war er kein gütiger Gott, wie die Christen behaupteten, sondern ein gnadenloser, unbarmherziger Gott der Rache. »Es wird Zeit«, sagte Tristan da Costa. »Ja«, nickte Brianda. »Es ist Zeit.«
Gewandet in einen schwarzen, bis zum Boden reichenden Überwurf, der ihre bunten Kleider verbarg, setzte sie sich die gelbe Haube auf, die Tristan ihr reichte, um ihr Haar zu bedecken und sich als Jüdin kenntlich zu machen, wie das venezianische Gesetz es verlangte. Dann nahm sie ihre Tochter La Chica, die, genauso gekleidet wie sie, blass und stumm auf sie gewartet hatte, bei der Hand, um für immer den Palast zu verlassen, der so viele Jahre ihr Zuhause gewesen war. Noch einmal streifte ihr Blick an den Bildern entlang, die zum Teil schon mit weißen Leinentüchern verhangen waren: Abbilder ihrer selbst, die Diogo noch in Antwerpen hatte anfertigen lassen, auf der Suche nach ihrem wahren Gesicht. Hier, in Venedig, lange Zeit nach seinem Tod, hatte sie es gefunden. Sie hatte den Palazzo verkauft, um mit Tristan ins Ghetto zu ziehen.
»Gehen wir.«
Die Gondel lag schon an der Anlegestelle bereit. Tristan half Brianda und La Chica beim Einstieg. Wie um einander Halt zu geben, rückten die drei auf der harten, hölzernen Sitzbank zusammen. Während der Fahrt sprach keiner von ihnen ein Wort. Mit versteinerter Miene blickte Tristan über das Wasser, als müsste er das Ruder
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