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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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von diesem Augenblick erhofft hatte, stellte sich nicht ein. Die letzte und entscheidende Auseinandersetzung im Streit mit ihrer Schwester stand noch bevor. Nur vor Gericht war ihr Verhältnis mit Brianda bereinigt, nicht jedoch in ihrem Herzen. Gracia verließ den Saal und ging die geschwungene Treppe hinab, vorbei an den zwei riesigen Marmorfiguren, die den Innenhof des Dogenpalastes bewachten. Auf dem Markusplatz, umflattert von zahllosen Tauben, bezeugten die verkohlten Reste des Scheiterhaufens, welchem Schicksal sie mit knapper Not entronnen war. Wäre der Gesandte des Sultans eine Woche später eingetroffen - sie wäre nicht mehr am Leben. Um das Holz nicht ungenutzt verkommen zu lassen, hatte man an ihrer Stelle zwei Juden verbrannt, die bei Nacht außerhalb des Ghettos aufgegriffen worden waren.
    Als sie durch das Hoftor auf die Piazza trat, wartete Brianda bereits auf sie. Sie war mit Tristan da Costa vorausgegangen. Zögernd kam sie auf ihre Schwester zu. Gracia pochte das Herz bis zum Hals. Seit vier Jahren hatten die beiden sich nicht mehr gesehen, und immer wieder hatte Gracia während dieser Zeit versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie einander zum ersten Mal wieder begegneten. In ihrer Vorstellung hatte sie stets gewusst, was sie tun und sagen würde. Aber die Wirklichkeit war anders. Am liebsten hätte sie Brianda an den Schultern gepackt, sie geschüttelt und geohrfeigt, links und rechts, um sie für ihren Verrat zu strafen, der sie um ein Haar das Leben gekostet hätte. Doch sie konnte es nicht. Sie stand nur da und schaute ihre Schwester an. Wie wunderschön Brianda mit ihren braunen Locken war, schöner als jede Venezianerin ... So wunderschön, wie damals in der Mikwa, in der Nacht vor ihrer Hochzeit... Plötzlich erfasste Gracia eine Gefühlswoge, die stärker war als sie selbst, und all ihre bösen Empfindungen, ihre Verbitterung, ihr Hass und ihr Zorn, lösten sich darin auf wie ein paar Spritzer Galle im Ozean. Brianda und sie - sie gehörten doch zusammen! Ihr ganzes Leben hatten sie miteinander verbracht, durch die halbe Welt waren sie vor ihren Feinden zusammen geflohen, von einem Ende Europas zum anderen.
    Waren sie wahnsinnig, einander gegenseitig vor Gericht zu zerren?
    »Ich ... ich möchte dich um Verzeihung bitten«, sagte Gracia. »Ich habe dir fürchterliches Unrecht angetan. Ich stehe in deiner Schuld.«
    »Du
bittest mich um Verzeihung?«, fragte ihre Schwester mit großen Augen. »Das hast du noch nie getan.« Gracia wollte sie berühren, doch sie schaffte es nicht, den Arm zu heben. Da machte Brianda einen Schritt auf sie zu. Dieser kleine Schritt reichte aus, um den Bann zu brechen. »Ach, Brianda ...« Ein Panzer, hart und schwer wie Eisen, fiel von Gracia ab, und als könnte es nicht anders sein, nahm sie ihre Schwester in den Arm. »Lass uns endlich Frieden schließen«, sagte sie und presste sie an sich. »Ich habe dich so sehr vermisst.« »Ich dich auch. Wir waren doch immer zusammen, unser ganzes Leben.«
    »Meine kleine Schwester.« Gracia küsste sie auf die Stirn, auf die Wangen, auf den Mund. Dann nahm sie ihre beiden Hände und schaute sie an. »Komm mit mir nach Konstantinopel.« »Das willst du?«, fragte Brianda. »Obwohl ich ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
    »Und ob ich das will!«, rief Gracia. »Ich hätte sonst keine ruhige Minute. Du kannst hier nicht bleiben. Du bist hier genauso wenig sicher wie ich. Ein Wort von Cornelius Scheppering, und ...« Als sie sah, wie ihre Schwester zusammenzuckte, fügte sie hinzu: »Oder willst du ins Ghetto ziehen?« Brianda schüttelte den Kopf.
    »Na also. Worauf wartest du? Bitte, Brianda. Sag endlich ja ...« Ihre Schwester wollte etwas erwidern. Doch jemand anderes kam ihr zuvor. »Nein!«
    Als Gracia die Stimme hörte, fuhr sie herum. Vor ihr stand ihre Tochter. Ihr Gesicht war ganz blass.
    »Du?«, fragte Gracia. »Was machst du hier? Du hast doch gesagt ...«
    »Ich ... ich will nicht, dass sie mit uns kommt«, fiel ihr Reyna, vor Aufregung stammelnd, ins Wort. »Was soll das heißen?«
    »Das fragst du?« Reyna schnappte nach Luft. »Hast du vergessen, was sie getan hat? Das da ist ihr Werk!« Sie zeigte auf die Reste des Scheiterhaufens. »Sie hat dich bei der Inquisition angezeigt! Wegen Juderei! Eine Jüdin ihre eigene Schwester! Weil sie dich umbringen wollte!« »Bist du verrückt geworden?«
    »Verrückt? Ich sage nur die Wahrheit! Sie wollte, dass du verbrennst, hier auf diesem

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