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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Paläste gen Himmel wölbten, funkelnd im flimmernden Sonnenglast, als hätte sich über den hängenden Gärten der sieben Hügel, auf denen die Stadt diesseits und jenseits des Goldenen Horns erbaut worden war, eine riesige Schatztruhe entleert und ihre prächtigsten Stücke ausgestreut. Von Kaiser Konstantin als zweites Rom gegründet, zu byzantinischer Zeit als Neues Jerusalem gepriesen, war Konstantinopel die Königin aller Städte, Inbegriff irdischer und Abbild himmlischer Herrlichkeit, glanzvolle Verschmelzung von Morgen- und Abendland. An der Wasserbrücke der zwei wichtigsten Erdteile gelegen, war sie die natürliche Beherrscherin Asiens und Europas, Herrin zweier Kontinente und Gebieterin über zwei Weltmeere. Diesen Ort jahrhundertealter Macht, 1453 für den wahren Glauben erobert, hatte Allah zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches auserkoren, wo seit nunmehr einem halben Menschenleben Sultan Süleyman der Prächtige regierte - der Schatten Gottes auf Erden und Schutzherr aller Muslime.
    Fünfmal am Tag riefen die Muezzins die Gläubigen von den Minaretten zum Gebet. Dann war es, als hielte die Zeit den Atem an, und in das sonst rastlos durcheinanderwuselnde Labyrinth der Straßen und Gassen, die tausendundein Geheimnis bargen, kehrte für eine kurze Weile die Ordnung des Glaubens ein. Das Geschrei auf den Plätzen, das Feilschen auf den Basaren verstummte, und über dreimal hunderttausend Menschen hielten in ihrer Tätigkeit inne, gleichgültig, wie wichtig die Geschäfte waren, die sie gerade betrieben, um sich dem wahren und eigentlichen  Zweck ihres Daseins zu widmen: der Verehrung ihres himmlischen Gebieters. Verschleierte Frauen, die eben noch auf den Märkten keifend um Fleisch und Gemüse gestritten hatten, verschwanden wie lautlose Schatten in den Häusern; in den Läden und Werkstätten wurden Gebetsteppiche ausgerollt, und aus allen Ecken eilten Gläubige zu den Moscheen, die zu Hunderten in dieser Stadt errichtet worden waren, zur Verehrung Allahs. Und während sie sich an den Brunnen vor den Gotteshäusern die Füße wuschen, um sich auf das Gebet vorzubereiten, strichen einsam streunende Katzen mit krummem Rücken durch die plötzlich verwaisten Gassen, wo nur noch ein paar sich selbst überlasse Kinder hier und da im Schatten grün überrankter Mauern mit ihren Murmeln spielten oder Eidechsen fingen, die über die staubigen Stufen alter Prachtpaläste huschten. Wenn aber die Gläubigen in den Moscheen die Suren des Korans anstimmten, um ihren Schöpfer zu preisen, geschah es nicht selten, dass sich in ihr Gotteslob das Geläut einer christlichen Kirche mischte oder aus einer Synagoge der Gesang eines jüdischen Chasans. Doch weder die staatliche Obrigkeit noch ein Vertreter der geistlichen Macht nahmen daran Anstoß. Denn nirgendwo sonst auf der Welt herrschte in Glaubensdingen mehr Freiheit als in dieser Stadt, deren größte und herrlichste Moschee, die Aya Sofya, einst unter dem Namen Hagia Sophia die größte und herrlichste Kirche der ganzen Christenheit gewesen war. Obwohl kein Mohammedaner auch nur im Traum daran zu zweifeln wagte, dass einzig Allah der Anbetung würdig wäre, lebten hier in alltäglicher Nachbarschaft und freundlicher gegenseitiger Duldung die Anhänger von über zwei Dutzend Religionen. Als gäbe es nur einen einzigen wahren Gott, gingen die Gotteskinder der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen ihren Andachtsübungen nach, ohne einander im Gebet zu stören, türkische Sunniten und persische Schiiten, deutsche Protestanten und italienische Katholiken, russische und bulgarische Orthodoxe, syrische Aramäer und ukrainische Chassidim, ein jeder nach seiner Art, um den himmlischen Herrscher in nahezu sämtlichen Sprachen anzubeten, in denen die Menschen seit der babylonischen Verwirrung redeten. Anders als in den Ländern des christlichen Abendlandes war es den Untertanen des Osmanischen Reiches nämlich erlaubt, sich frei und ungehindert zu dem Glauben zu bekennen, nach dem ihre Seelen dürsteten. Einzig die Abgabe der Steuern wurde unterschiedlich festgelegt: Ungläubige mussten dem Sultan ungleich höheren Tribut entrichten als seine rechtgläubigen Untertanen, die Jünger des Propheten Mohammed. Seit die Osmanen Konstantinopel regierten, strömten darum ganze Heerscharen von Juden, die ihres Lebens in der Heimat nicht mehr sicher waren, aus Europa an den Bosporus, um unter dem Halbmond Zuflucht zu suchen. Da sie selbst kein eigenes Land besaßen, also von

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