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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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führen, während La Chica in ängstlichem Schweigen an der Seite ihrer Mutter verharrte. Obwohl nur eine kurze Strecke vor ihnen lag, fühlte Brianda sich so beklommen wie beim Antritt einer langen Reise in eine fremde, unbekannte Welt. Die Rufe der Schiffer, die Schreie der Händler, die Gesänge der Gondolieri, die wie jeden Tag über das Wasser wehten, drangen nur noch wie von ferne an ihr Ohr. Sie wusste, alles über Jahre hinweg Vertraute galt ihr nun nicht mehr. Im hellen Sonnenglanz erstrahlten die herrlichen Fassaden der Gebäude links und rechts am Ufer, ein einziges Glitzern und Funkeln von Wasser und Licht, von Marmor und Gold, als wollte die Stadt sich ihr noch einmal in ihrer ganzen Pracht und Schönheit zeigen. Doch die Kirchen und Paläste, deren Anblick sie früher so oft mit der Gewissheit erfüllt hatte, dass die Welt ein einziger, reichgedeckter Gabentisch ist, zogen heute an ihren Augen vorüber wie vor den Augen einer Fremden. All diese Herrlichkeit, die zum Greifen nahe schien, war ihr in Wahrheit schon so fern und unerreichbar wie die Sonne oder der Mond. Weil sie selbst nicht mehr dazugehörte, kein Teil mehr davon war. Tapfer bekämpfte sie die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, und drückte Tristans Hand. So musste Eva sich gefühlt haben, als sie an Adams Seite einst den Garten Eden verließ. »Wir sind da.«
    Sie hatten den Canal Grande verlassen und waren in den Rio di Canareggio eingebogen, wo sie an der ersten Anlegestelle festmachten. Tristan sprang an Land und reichte Brianda und La Chica die Hand, um ihnen aus der schwankenden Gondel zu helfen. Immer noch schweigend, legten sie die letzten Schritte zu Fuß zurück. Doch als sie den Ponte di Ghetto Vecchio betraten, die mit einem hohen Tor bewehrte Brücke, die in das Judenviertel führte, zerrte La Chica plötzlich an Briandas Hand und weigerte sich, weiterzugehen.
    »Ich will zurück ins Kloster!«, rief sie. »Ich will zum Herrn Jesus zurück!«
    Während La Chica sich weinend von ihrer Hand losriss und schrie, als wollte man sie zur Schlachtbank führen, blickte Brianda auf den Judenmarkt jenseits der Brücke: ein lärmendes Gewimmel fremder, schwarz gewandeter Menschen, die um verbeulte Töpfe und getragene Lumpen feilschten, im Schatten grauer, schmuckloser Häuser, die sich dicht an dicht in den blauen Himmel türmten, ohne Luft zum Atmen zwischen den Mauern. Nie hatte Brianda sich vorstellen können, hier zu leben, in dieser bedrückenden Enge, fern der Sonne und jeglicher Schönheit, wo alles überzuquellen schien, von Menschen und Lärm und Dreck und Gestank. Doch nun war dieser Ort ihre einzige Zuflucht. Ohne ihre Schwester war sie in Venedig verloren. Eine Anzeige würde genügen, um ihre Existenz zu gefährden, im offenen Teil der Stadt. Und sie, Brianda Mendes, die sich zeit ihres Lebens kaum als Jüdin gefühlt, ja, die ihr Judentum oft sogar gehasst hatte, weil es ihr die Möglichkeit verwehrte, so zu sein wie alle anderen, so zu leben wie alle anderen, begriff in diesem Augenblick, dass allein das Ghetto, das Bekenntnis zum Glauben ihrer Väter, ihr Schutz und Sicherheit geben konnte. Ja, sie war eine Gefangene ihres Glaubens und ihres Volkes, jetzt und für alle Zeit, eine marranische Scheinchristin, die niemals zu den wirklichen Christen gehören würde.
    »Willst du es dir noch einmal überlegen?«, fragte Tristan, der ihre Not sah.
    Brianda drehte sich zu ihm um, und als sie seinen Blick erwiderte, schämte sie sich vor ihm für den einen, kurzen Augenblick des Zögerns. Was zählte ihre Angst im Vergleich zu dem Opfer, das er gebracht hatte, um sie zu behalten? Tristan hatte alles für sie verraten, was ihm heilig war: seine Ehre, seinen Glauben, seine Seele.
    »Habe ich denn eine Wahl?«, fragte sie. Mit müdem Lächeln schüttelte sie den Kopf und nahm ihre Tochter wieder an die Hand. »Wisch dir die Tränen ab«, ermahnte sie La Chica. »Statt zu weinen, wollen wir dem Herrn und König danken, dass er uns gerettet hat.«
    Dann strich sie eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, unter die Haube, und schloss mit fester Hand den schwarzen Umhang vor ihrer Brust, um die Brücke zu überschreiten.
     

Viertes Buch
La Senhora
Konstantinopel, 1553-1557
1
    Wie die Verheißung von Allahs Paradies erhob sich Konstantinopel über den glitzernden Fluten des Bosporus: ein pastellfarbenes Häusermeer inmitten tiefgrüner Zypressenwälder, aus denen sich majestätisch die Kuppeln der Moscheen und

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