Die Gottessucherin
Ehefrau des Geldverleihers aus Coimbra, die auf dem Markt von Antwerpen einen Schweinebraten für ihre Familie gekauft hatte. Gott hatte ihr die kleine Sünde offenbar verziehen ... Gracia glaubte sogar, eine der Witwen aus Badajoz zu erkennen, die Francisco auf den Knien angefleht hatten, ihnen zur Flucht zu verhelfen, ganz zu Beginn ihrer Ehe, als sie ihren Mann noch für einen Verräter hielt, der die Frauen um ihr Geld und ihren Schmuck betrügen wollte ... All diese Menschen hatten es mit Schiffen der Firma Mendes hierher geschafft, aus allen Ländern und Städten Europas, auf der Flucht vor der Folter und den Scheiterhaufen der Inquisition. Konnte es einen schöneren Lohn für die erlittenen Mühen und Gefahren geben, als in diese Gesichter zu blicken?
»Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Wunder erwiesen unseren Vätern in jenen Tagen zu dieser Zeit.« Während Gracia die Dankesworte mitsprach, musste sie an Francisco denken, ihren Mann, und an Diogo, seinen Bruder. Die zwei Männer, die sie in ihrem Leben geliebt hatte ... Die zwei Männer, denen bis heute ihre Liebe galt ... Konnten sie das jubelnde Gotteshaus wohl gerade sehen, aus irgendeiner weiten, fernen Höhe? Als sie Diogos Gesicht vor sich sah, fiel Brianda ihr ein, ihre Schwester, die sie in Venedig zurückgelassen hatte. Bei dem Gedanken zog sich Gracias Herz zusammen. Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt ... Plötzlich, ohne dass der Name Haman gefallen wäre, breitete sich Unruhe in der Synagoge aus. Alle Köpfe fuhren zum Tor herum, jeder wollte sehen, woher die Unruhe kam. »José!«
Mit einem Freudenschrei sprang Reyna auf. Gracia traute ihren Augen nicht. Tatsächlich, der Mann, der sich durch die Reihen der Gläubigen drängte, auf ihre Tochter zu, war ihr Neffe. Ohne auf die Gemeinde zu achten, sanken die zwei einander in die Arme und küssten sich. Gracia war entsetzt. Was wollte José hier? Sie hatte gehofft, er würde erst mit dem Sultan aus Ungarn zurückkehren. Damit sie sich aus dem Versprechen, das sie Süleyman gegeben hatte, loskaufen könnte, bevor Reyna davon erführe ... Gracia spürte, wie ihr Herz wild zu schlagen begann. Was würde geschehen, wenn die Wahrheit ans Licht käme? Reyna war jung und verliebt, sie würde ihre Entscheidung niemals begreifen. Noch während die beiden Platz nahmen, setzte Rabbi Soncino den Gottesdienst fort. Gracia flehte Gott um Hilfe an. Sie hatte schon ihre Schwester verloren - sie wollte nicht auch noch ihre Tochter verlieren. Reyna war alles, was ihr von ihrem alten Leben geblieben war.
»Ich möchte ein Wort im Namen aller Juden an Euch richten.« Als Gracia sich wieder zum Thoraschrein wandte, trat ein Mann auf sie zu, ein Greis mit weißem Bart und weißen Schläfenlocken, den sie in ihrer Verwirrung erst beim zweiten Hinsehen erkannte. Er war der Gemeindeälteste aus Toledo, der mit der Fortuna aus Venedig geflohen war, derselbe Greis, in dem ihr toter Vater ihr begegnet war, am Tag von Briandas Verrat. »Gott hat Euch gesandt, uns aus der Knechtschaft zu führen«, sagte er. »Nasi ist Euer Name von Geburt, das heißt auf Hebräisch >Fürst<, weil Ihr aus dem Hause David stammt. Euch verdanken wir unser Leben. Ihr habt uns von den Edomitern befreit.« Er kniete vor ihr nieder und küsste ihre Hand. »Ihr seid La Senhora, unsere Herrin. Gott segne Euch.«
Gracia war so verwirrt, dass sie kaum noch denken konnte. Während der Mann vor ihr kniete, hielten Reyna und José einander bei der Hand wie ein Brautpaar, und Amatus Lusitanus lächelte ihnen zu, als wollte er sie segnen. Gracia wusste nicht, was unerträglicher war - der Anblick des knienden Greises, der sie wie eine Königin verehrte, oder der Anblick ihrer Tochter, deren Glück sie vielleicht zerstören musste? Sie wollte etwas sagen, damit wenigstens der alte Mann endlich aufstünde. Doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, sprach Rabbi Soncino bereits den letzten Segensspruch, um den Gottesdienst zu beenden. »Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du unseren Streit führst und unsere Vergeltung ausübst und den verdienten Lohn heimzahlst allen Feinden unserer Seele. Gelobt seiest du, Ewiger, der du für dein Volk Israel alle seine Bedränger bestrafst, hilfreicher Gott.«
»Amen!«, antwortete die Gemeinde im Chor. »Der Segen komme über uns!«
3
Gefeiert wurde im Belvedere-Serail, Gracias neuem Zuhause -ein prachtvoller osmanischer Palast, den sie in Pera,
Weitere Kostenlose Bücher