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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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dem europäischen Teil der Stadt, nach ihrer Ankunft am Bosporus mit Hilfe ihres Freundes Amatus Lusitanus erworben hatte. Seit Stunden schon hallten die hohen, kachelgeschmückten Räume vom Lachen und Lärmen der Purim-Gesellschaft wider. Fast die ganze Gemeinde war zum Festmahl geladen - zwei Dutzend Tische schienen sich unter der Last der Speisen zu biegen -, um den Rest des Tages mit gemeinsamem Essen und Trinken zu verbringen, wie das Gebot es verlangte. Während Maskierte unter großem Gejohle Purim-Spiele aufführten, verkleidet als Esther und Haman und Ahasver, überboten Rabbi Sonciono und der Gemeindeälteste einander mit den spitzfindigsten Argumenten, um unter Aufbietung aller talmudischer Gelehrsamkeit den Nachweis zu führen, warum an diesem Freudentag jeder Jude so viel Wein trinken musste, bis er nicht mehr zwischen Esther und Ahasver unterscheiden konnte.
    Als draußen die Sonne über dem Marmarameer unterging, war kaum noch ein Gast imstande, ein vernünftiges Wort mit seinem Nachbarn zu wechseln. Selbst Gracias Purim-Versprechen, der Gemeinde eine neue Synagoge zu stiften, fand in der lärmenden Gesellschaft kaum Gehör. Nach kurzem Beifall prostete man einander schon wieder zu. Wer interessiert sich für gute Werke, wenn es guten Wein zu trinken gibt ? »Komm, hier entlang!«, sagte José. »Wo willst du hin?«, fragte Reyna. »Keine Ahnung! Nur weg von den anderen!« Er reichte ihr die Hand und führte sie eine schmale Hintertreppe hinauf, auf deren Stufen ein paar Betrunkene mit verrutschten Masken auf den Gesichtern schon weinselig schnarchten. Reyna raffte ihre Röcke und folgte ihrem Verlobten, eilig immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Heimlich wie zwei Diebe hatten sie sich von der Festgesellschaft gestohlen, noch bevor die Süßspeisen aufgetragen worden waren. Sie wollten allein sein, endlich allein! Seit Joses Ankunft hatten sie noch keine Minute unter vier Augen verbracht.
    »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe!« »Und ich dich erst! Manchmal wusste ich nicht mehr, wie ich es ohne dich aushalten sollte ...«
    Reynas Gesicht glühte vom Wein, und von den vielen Stufen war ihr ganz schwindlig. Sie waren gelaufen, bis es nicht mehr höher hinaufging. Hier oben war es noch warm von der Frühlingssonne, die während des ganzen Tages auf das Dach geschienen hatte. Über ihren Köpfen, irgendwo im Gebälk, war leises Gurren zu hören.
    Verwundert schaute José sich um. »Sag mal, hat deine Mutter hier einen Taubenschlag?« »Ist das jetzt so wichtig?«
    Er schüttelte den Kopf mit einem Gesicht, als würde er sich für seine Frage schämen. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin«, sagte er leise.
    »Was soll das heißen? Wärst du lieber noch bei deinem Prinzen?« »Für kein Geld der Welt. Als ich hörte, dass du in Konstantinopel bist, konnte mich nichts mehr in Ungarn halten. Bei Nacht und Nebel bin ich aus dem Lager geflohen, obwohl Selim es mir verboten hatte.«
    Reyna schloss für eine Sekunde die Augen. Noch nie im Leben hatte jemand so etwas Schönes zu ihr gesagt. »Das hast du für mich getan?«, fragte sie ungläubig. »Aber - war das nicht furchtbar gefährlich?«
    José schüttelte mit zärtlichem Lächeln den Kopf. »Nicht so gefährlich, wie wenn ich geblieben wäre. Ich wäre gestorben vor Sehnsucht nach dir.«
    Für eine Sekunde schauten sie sich an, wortlos und stumm. Dann, wie auf ein Zeichen, fielen sie übereinander her, zwei Verdurstende in der Wüste.
    »Endlich! Endlich bist du da ...« »Ja, Reyna ... Endlich ...«
    Gierig suchten sich ihre Münder, heißer Atem auf heißer Haut, und während ihre Lippen verschmolzen, liefen Reyna tausend herrliche Schauer über den Rücken. Musste man erst monatelang voneinander getrennt sein, um solche Gefühle zu erleben? Sie wusste gar nicht, was dringlicher war: José zu küssen oder ihn anzuschauen ... Am liebsten hätte sie beides zugleich getan. Sobald sie ihn anschaute, musste sie ihn küssen, und sobald sie ihn küsste, hatte sie nur noch das Bedürfnis, sein Gesicht zu sehen.
    »Wie sehr du dich verändert hast ...«
    Ohne seine Hände loszulassen, trat sie einen Schritt zurück. Mit dem Turban und dem schmalen Oberlippenbart, den er sich hatte wachsen lassen, wirkte er fast wie ein Türke. Obwohl sie Barte hasste, fand sie seinen hinreißend. Aber konnte es überhaupt etwas geben, was ihr nicht an ihm gefiel? Sogar seine großen Ohren, die sie nie hatte ausstehen können,

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