Die Gottessucherin
frei!«
»Nein, das sind wir nicht«, erwiderte Gracia in die dunkle Nacht hinein. »Oder hast du vergessen, wovon ich dir immer erzählt habe? Von dem Garten, in dem es nach Orangen und Pinien und Datteln duftet... Dem Fluss, dessen Fluten sechs Tage in der Woche fließen, am siebten aber stillestehen ... Das ist unser Ziel.« Noch während sie sprach, wandte sie sich vom Fenster ab. »Aber was stehen wir hier und reden? Es ist gleich Nacht, und wir haben noch nicht gebetet. Höchste Zeit, dass wir das nachholen.« »Einen Moment noch. Bitte!«
Als Gracia ihren Blick erwiderte, begriff Reyna, warum alle Juden in der Stadt sie nur noch
La Senhora
nannten. Ja, ihre Mutter war wirklich eine Herrin. Obwohl sie die vierzig längst überschritten hatte, war ihre Haltung ungebeugt, und in ihrem hellen Gesicht, das ihr immer noch kastanienbraunes Haar streng umrahmte, zeugten nur zwei scharfe, senkrechte Falten über den wachen Augen von ihrem Alter. Aber Reyna wusste, hinter dieser Fassade gab es noch einen anderen Menschen, eine zarte, zerbrechliche Frau, eine liebevolle, fürsorgliche Mutter, der kein Opfer zu groß war, um ihre Tochter vor den Gefahren der Welt zu schützen. Zärtlich legte Reyna einen Arm um sie. »Sag mal, kann es sein, dass du mir etwas verheimlichst? Irgendetwas, von dem ich deiner Meinung nach nichts wissen darf?« Gracia schüttelte unwillig den Kopf.
»Bitte, Mutter. Ich bin kein Kind mehr, ich bin dreiundzwanzig Jahre alt.«
Gracia wurde plötzlich rot, wie ein junges Mädchen, und als sie zu Boden blickte und nervös an ihrem grünen Seidenschal zupfte, den Amatus Lusitanus ihr vor einem halben Jahr zum Purim-Fest geschenkt hatte, ging Reyna ein Licht auf. »Ach du meine Güte, ist das wirklich wahr?«, lachte sie. »Hast du vielleicht selbst Hochzeitspläne?« »Bist du verrückt geworden?«
»Ja natürlich«, fuhr Reyna unbeirrt fort. »Amatus Lusitanus und du - ich muss blind gewesen sein! Jeden Tag kommt er zu Besuch, wenn nicht einmal, dann zweimal. Und jetzt wartest du darauf, dass er dir einen Antrag macht, damit du deine Tochter nicht als unverheiratete Frau in die Ehe geben musst.« »Unsinn!«, rief Gracia. »Du weißt so gut wie ich, dass ich nach deinem Vater keinen anderen Mann mehr heiraten kann. Nein!«, fiel sie Reyna barsch ins Wort, als die ihr widersprechen wollte. »Ich will solches Geschwätz nicht hören!« »Aber was ist es dann?«, fragte Reyna. »Irgendetwas gibt es doch, weshalb du unsere Hochzeit immer wieder verschiebst!« Ihre Mutter machte sich von ihr los und nahm mit beiden Händen die Spitzen ihres Schals, um das Tuch um ihre Schultern straff zu ziehen.
»Willst du es wirklich wissen?«, fragte sie. Reyna nickte.
»Also gut, es gibt tatsächlich einen Grund, der eurer Hochzeit im Wege steht. Aber der hat ganz allein mit José zu tun.« Gracias Stimme war plötzlich so hart und ihr Blick so streng, dass Reyna Angst bekam.
»Dann musst du es mir sagen. Bitte, Mutter. Ich habe ein Recht darauf.«
»Natürlich, wenn du darauf bestehst.« Gracia schaute ihr fest in die Augen. Dann erklärte sie: »Du kannst José nicht heiraten, weil dein Verlobter kein richtiger Jude ist.«
5
Rabbi Soncinos Haus befand sich mitten im alten Stambul, in dem unüberschaubaren, tausendfach verwinkelten Gassenlabyrinth zwischen dem großen Basar und der Aya Sofya, wo im Schatten der größten Moschee der Stadt das neue Gotteshaus der Juden entstand.
»Dom José? Seid Ihr gekommen, um Euch über die Fortschritte der Baustelle zu unterrichten?«
»Nein, Rabbi Soncino, die neue Synagoge ist allein Dona Gracias Sache. Ich möchte Euch eine Frage stellen. Eine sehr wichtige Frage. Habt Ihr ein wenig Zeit?«
Der Rabbiner bat José herein und bot ihm einen Stuhl an. Durch das offene Fenster blickte man auf einen Markt, wo verschleierte Frauen mit turbantragenden Händlern feilschten, und in der Ferne erhob sich vor dem tiefblauen Herbsthimmel die Kuppel der großen Moschee, von wo gerade die Rufe des Muezzins herüberwehten. Doch drinnen, in der Studierstube Soncinos, sah es noch genauso aus wie vor Jahren in seiner Lissaboner Wohnung: Bücher über Bücher - das ganze Wissen des Volkes Israel. »Bin ich ein Jude, Rabbi?«, fragte José, nachdem sein Gastgeber das Fenster geschlossen hatte, damit sie ungestört waren. »Macht Ihr Scherze?«, fragte Soncino verwundert zurück. »Solange ich zurückdenken kann, seid Ihr Mitglied der Gemeinde. Ich kann mich noch an Eure
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