Die Gottessucherin
wie unwirkliche Schatten. »Verbeugt Euch!«
Plötzlich öffnete sich vor Gracia eine Tür, und im nächsten Augenblick packte der Eunuch sie im Nacken und zwang sie mit unerwarteter Kraft zu einer bodentiefen Verneigung, so schnell und unverhofft, dass sie keine Zeit fand, sich zu wehren. Zum Glück! Denn als sie sich wieder aufrichtete, stand sie vor Sultan Süleyman, dem Herrscher des Osmanischen Reiches und mächtigsten Mann der Welt. Angetan mit den kostbarsten Gewändern, die Gracia je gesehen hatte, einem riesigen, schneeweißen Turban auf dem Kopf, hockte er im Schneidersitz auf einem Bodenpolster inmitten des Raumes, in dem es vor Gold und Silber und Juwelen funkelte wie in einer Schatzkammer. An seiner Seite saß eine unverschleierte Frau von hellhäutiger, makelloser Schönheit, die ungefähr so alt war wie Gracia selbst. Das musste Roxelane sein, die Favoritin - die einzige Frau, die Süleyman angeblich unter all seinen Frauen wirklich liebte. »Wie wir zu unserer Freude hören, scheint Ihr Euch in unserer Hauptstadt wohl zu fühlen«, begrüßte der Sultan Gracia mit Hilfe eines kastrierten Dragomans, der die leise geflüsterten Worte seines Gebieters ins Italienische übersetzte. »Man sagt, dass täglich mindestens ein Schiff der Firma Mendes bei uns vor Anker geht. Eine sehr kluge Entscheidung, die Geschäfte von Venedig nach Ancona zu verlagern. Der einzige Hafen in Italien, der frei ist von der Plage der Inquisition.«
Gracia war überrascht, wie gut der Sultan über die Verhältnisse ihres Handelshauses Bescheid wusste. Noch größer aber war ihre Verwunderung, als sie sah, dass ihre Geschenke bereits vor ihr eingetroffen waren. Die Bücher, die sie zu ihrem Antrittsbesuch mitgebracht hatte, waren schon sorgsam auf einem Tischchen gestapelt. Einen Band hielt Süleyman sogar in seinen Händen. Ein gutes Zeichen! Gracia fasste Mut.
»Ich danke Euch für die gütige Aufnahme in Eurem Reich«, erwiderte sie die Begrüßung. »Nicht nur im Namen meiner Angehörigen, sondern im Namen aller Juden, denen Ihr in so großzügiger Weise Zuflucht gewährt.«
»Wir können Kaiser Karl nicht verstehen, so wenig wie den Papst«, erklärte Süleyman und forderte Gracia mit einer Handbewegung auf, ihm gegenüber auf einem Bodenpolster Platz zu nehmen. »Sie bilden sich ein, die Weisesten der Weisen zu sein. Dabei sind sie dümmer als Maulesel. Wie sonst könnten sie so tüchtige Menschen wie die Juden aus ihren Ländern vertreiben?« Er legte das Buch beiseite und klatschte in die Hände. Gleich darauf erschien eine verschleierte Sklavin und goss aus einer goldenen Kanne dampfenden Mokka in winzige, perlmuttfarbene Tässchen. »Unser Freund Amatus Lusitanus deutete an, Ihr hättet ein Geschäft vorzuschlagen? Es heißt, Ihr wollt die Hoheitsrechte über ein Stück Land erwerben?«
Gracia hatte nicht damit gerechnet, so schnell über ihr Anliegen sprechen zu können. Umso froher ergriff sie die Gelegenheit. »Ja, Tiberias«, erklärte sie.
»Tiberias?« Der Sultan nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Eine gottverlassene Gegend. Nur ödes Land, ein See und heiße Quellen, die nach Schwefel stinken. Die meisten Häuser der Stadt stehen leer und sind verfallen. Kein Mensch will dort freiwillig leben.«
»Gewiss«, erwiderte Gracia, »im Vergleich zu anderen Städten Eures Reiches ist Tiberias nur ein unscheinbarer Ort. Doch für uns Juden ist der Boden dort heiliges Land, eine Kostbarkeit im Herzen unseres Volkes. In Tiberias ruhen die Gebeine von einigen unserer berühmtesten Ahnen, die klügsten unserer Schriftgelehrten haben dort unsere heiligen Bücher studiert. Außerdem«, fügte sie hinzu, »habe ich meinem Mann auf dem Sterbebett versprochen, ihn in Tiberias zu begraben.« Während Süleyman seine Mokkatasse abstellte, mischte Roxelane sich erstmals in das Gespräch. »Wie viel wäre Euch Tiberias wert?«, wollte sie wissen. Gracia brauchte keine Sekunde Zeit für die Antwort. Sie hatte längst alles durchgerechnet. »Ich kann Euch im Namen meines Volkes eine jährliche Pacht von tausend Golddukaten anbieten«, antwortete sie.
»Ein großzügiges Angebot für eine solche Ödnis«, erklärte Süleyman. »Was erwartet Ihr dafür?«
»Das Privileg, in Tiberias eine jüdische Siedlung zu gründen, auf eigenem Boden und mit eigenem Recht. Als Zufluchtsort für die Juden, die der Papst und der Kaiser aus ihren Staaten vertreiben.«
»Eine Art Gelobtes Land?« Süleyman nickte. »Der Traum Eures Volkes
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