Die Gottessucherin
schlimmeres Leid als enttäuschte Liebe, Leid, das Tausenden und Abertausenden von Menschen zugefügt wurde, immer wieder, Tag für Tag, überall auf der Erde ... »Bitte, Reyna! Ich beschwöre dich! Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt ... Wenn du auf die Heirat mit José verzichtest, kannst du damit unzähligen Menschen helfen.« Reyna schaute wieder zum Fenster hinaus. »Es ist immer dasselbe«, sagte sie leise. »Erst kommen die anderen, dann kommen wir. Genauso wie bei Brianda. Die hast du auch um ihr Erbe gebracht, für dein verdammtes Gelobtes Land.« »Ich verbiete dir, so zu reden! Oder willst du dich versündigen?«, rief Gracia. »Und was Brianda angeht - wir hatten uns fast wieder versöhnt, und wenn du dich nicht zwischen uns gedrängt hättest, dann wäre sie jetzt hier, zusammen mit uns ... « Gracia unterbrach sich, in der Hoffnung, dass Reyna zurücknehmen würde, was sie gesagt hatte. Doch ihre Tochter schaute nur stumm in den Regen hinaus. »Bitte, Reyna, nimm doch Vernunft an.«
Wieder keine Antwort. Nur die Decke glitt mit leisem Rascheln vom Nähtisch. Gracia war froh, etwas tun zu können, und hob sie vom Boden auf. Glatt und kühl war der Stoff in ihrer Hand, den Reyna zugeschnitten und gesäumt und mit kunstvoller Stickerei verziert hatte, damit er später mal ihr Ehebett verschönern sollte. Unentschlossen betrachtete Gracia das Muster. Wie viel Mühe hatte ihre Tochter aufgewandt, wie viel Liebe, Stich für Stich ... An allen vier Ecken der Decke hatte sie einen kleinen Davidstern in die Seide gestickt.
»Hast du dich eigentlich je gefragt«, fragte Gracia, »wie viele Menschen für dich gestorben sind?«
Reyna warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Wovon redest du?«
»Von Antwerpen. Dutzende von Menschen sind damals ermordet worden. Deinetwegen«, fügte sie hinzu. »Auch dein Onkel Diogo.«
»Das wagst du mir zu sagen?«, rief Reyna. »Diogo war doch dein ...«
»Was war Diogo?«, fiel Gracia ihr entsetzt ins Wort. Eine Weile schauten sie sich wortlos an. Gracia wurde gleichzeitig heiß und kalt, während sie den Stoff in ihrer Hand zerknüllte. Hatte ihre Tochter die Wahrheit erfahren? Doch dann schüttelte Reyna den Kopf. »Ach, nichts«, sagte sie nur und wandte sich ab.
Gracia fiel ein Stein vom Herzen und dankte dem Herrn. »Ich kann ja verstehen, dass die Wahrheit dir weh tut«, sagte sie. »Aber die Wahrheit ist und bleibt trotzdem die Wahrheit. Unsere Glaubensbrüder in Antwerpen mussten sterben, weil du unbedingt diesen Aragon heiraten wolltest. Weil du verliebt warst.« Sie legte die Decke zurück auf den Tisch. »Sag selbst - hast du wirklich das Recht, zu behaupten, dass nur die Liebe zählt? Ausgerechnet du?« Reyna gab keine Antwort.
»Siehst du? Da musst du schweigen.« Sie machte einen Schritt auf ihre Tochter zu und hob die Hand, um sie zu berühren, doch sie wagte es nicht. Stattdessen sagte sie: »Wenn du es wiedergutmachen willst, Reyna, dann ist jetzt der Augenblick gekommen, in dem du deine Schulden zurückzahlen kannst.« Endlich drehte Reyna sich wieder herum. Ihre Augen waren voller Tränen. »Würde auch nur ein Einziger von den Toten wieder lebendig, wenn ich auf José verzichte?« Bevor ihre Mutter eine Antwort geben konnte, schüttelte sie wieder den Kopf. »Außerdem«, fügte sie hinzu, »damals, in Antwerpen, das war doch gar nicht ich, die das ganze Unglück heraufbeschworen hat. Das bist doch du gewesen!
Du
hast die Heirat mit Aragon verhindert. Die Entführung, die Flucht - alles war
dein
Plan!« »Willst du mir jetzt vorwerfen, dass ich dich vor dem Ungeheuer bewahrt habe?«, fragte Gracia. »Du warst doch ganz verrückt nach ihm! Was sollte ich denn tun? Sollte ich dich einem Judenmörder in die Ehe geben? Dann hätte ich dich ja gleich mit dem Teufel verheiraten können!«
»Aber einen Muslim, den darf ich jetzt heiraten, ja?«, rief Reyna. »Weil dir der in den Kram passt! Hast du keine Angst, dass dein Gott dich dafür mit der Hölle bestraft?«
»Deine Frage zeigt nur, wie kindisch du bist«, sagte Gracia. »Ich habe die Zusicherung des Sultans, dass du deinen Glauben behalten darfst, auch nach der Hochzeit.«
»Das hast du ja großartig hingekriegt!«, schnaubte Reyna. »Gratuliere!« Ihre Augen verengten sich zu zwei Schlitzen, aus denen der Hass hervorsprühte wie Funken. »Aber weißt du was ?«, zischte sie. »Ich will deinen verdammten Drecksglauben gar nicht! Du kannst ihn für dich behalten! Ich will José,
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