Die Gottessucherin
heiratest.«
Reyna fiel aus allen Wolken. »Bist du wahnsinnig geworden?« »Meine Einwilligung in die Hochzeit war die Voraussetzung dafür, dass Süleyman uns unter seinen Schutz genommen hat.«
»War
die Voraussetzung? Soll das heißen, ihr seid euch schon einig?«
Gracia wusste nicht, wie sie den Blick ihrer Tochter aushalten sollte. »Ich musste das Eheversprechen Süleymans Gesandten geben - schon in Venedig. Damit sie uns ausreisen lassen, anstatt mich zu verbrennen.«
Reyna wurde blass. »Jetzt begreife ich ... Darum die Vorwände und Ausreden ...« Eine Weile starrte sie auf die Stickerei, die zerknüllt und verrutscht auf dem Nähtisch lag. »Aber warum jetzt?«, fragte sie schließlich. »Jetzt sind wir doch in Sicherheit! Jetzt kann uns doch nichts mehr passieren!« »Bitte glaub mir, ich habe alles versucht. Und wenn sich noch irgendwas daran ändern ließe ...« Statt den Satz zu Ende zu sprechen, griff sie nach Reynas Hand. »Ich weiß, das ist kein Trost für dich, aber wenn du José aufgibst und den Sohn des Wesirs heiratest, gibt der Sultan unserem Volk ein eigenes Land. Tiberias.«
Reyna riss sich von ihr los. »Du willst mich für ein Stück Land verschachern?«
»Es ist das Land, wo dein Vater begraben werden wollte, das Gelobte Land ... Erinnerst du dich nicht? Das Land, wo es nach Datteln und Pinien und Orangen duftet ...« »Und ob ich mich erinnere! Jeden Abend hast du mir davon erzählt. Ein Märchen vor dem Einschlafen! Ein Hirngespinst! Das Gerede irgendeines verrückten Propheten!« »Nein«, sagte Gracia. »Das ist kein Märchen und auch kein Hirngespinst. Die Prophezeiung kann sich erfüllen, noch in diesem Jahr. Der Sultan hat uns Tiberias versprochen. Wir können dort leben wie ein ganz normales Volk, nach eigenem Recht und Gesetz.« Sie unterbrach sich und sah ihre Tochter an. »Reyna, bitte! Wir brauchen dieses Land. Du weißt doch, was in Ancona passiert. Sie rauben uns aus! Sie sperren uns ein! Sie foltern uns! Sie schlachten uns ab! Sie verbrennen uns bei lebendigem Leib! Als wären wir keine Menschen, sondern Vieh, mit dem sie machen können, was sie wollen. Und das wird niemals aufhören! Niemals! Solange wir kein eigenes Land besitzen.« »Weißt du eigentlich, was du von mir verlangst?«, fragte Reyna. »Ich liebe José, mehr als mein eigenes Leben. Aber das ist dir egal. Hauptsache, du kannst deinen Willen durchsetzen. Genauso wie damals bei...« Statt den Satz zu Ende zu sprechen, kehrte sie ihrer Mutter den Rücken zu und trat ans Fenster. »Wie bei wem?«
»Wie bei Brianda ...«, sagte Reyna leise. »Manchmal denke ich, ich wäre besser in Venedig geblieben.«
Gracia musste schlucken. Es war, als müsste sie alles noch einmal erleben. So wie Reyna jetzt hatte damals Brianda am Fenster ihres Palasts gestanden, in Venedig. Gracia hatte ihre Schwester gesehen, für einen letzten, kurzen Moment, als sie mit der Gondel an dem Palazzo vorüberglitt. Brianda hatte aus dem Fenster ihres Bilderkabinetts auf den Kanal hinabgeblickt. Unendlich einsam und verloren hatte sie gewirkt, wie eine verlassene Sünderin, die Gott in ein kaltes, leeres Paradies eingesperrt hatte, hinter eine unsichtbare Wand aus Glas. Der Anblick hatte Gracia so weh getan, dass sie kein zweites Mal zu ihrer Schwester hatte hinaufschauen können.
Würde sie jetzt auch noch ihre Tochter verlieren? »Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte sie leise. »Du bist jung, und du bist verliebt ...« Sie suchte nach irgendeinem Wort, mit dem sie Reynas Schmerz lindern könnte. Aber es fiel ihr nichts ein. »Glaub mir«, sagte sie nur, »wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man es besser. Dann weiß man, dass Liebe nicht das Einzige ist, worauf es ankommt im Leben.«
»Das sagst du und behauptest, mich zu verstehen?« Reyna blickte sie über die Schulter an, nichts als Verachtung in ihren hellblauen Augen. »Was weißt du schon von Liebe? Du hast ja gar keine Ahnung, was Liebe ist! Du hast ja immer nur dich selbst im Kopf. Dich und deine Geschäfte. - La Senhora!« Wie eine Ohrfeige traf Gracia der Titel, mit dem die Juden sie verehrten. Am liebsten hätte sie Reyna an den Schultern gepackt und geschüttelt. Doch was würde das nützen? Gracia wusste ja, welche Verwüstungen die Liebe in der Seele einer Frau anrichten konnte, wusste es aus eigener, bitterer Erfahrung, auch wenn Reyna ihr das nicht glaubte. Kein Leid konnte größer sein ... Aber hatte Reyna deshalb recht? Es gab noch anderes Leid auf der Welt,
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