Die Gottessucherin
Immer wieder summten diese drei Worte durch ihren Kopf. Diese drei kleinen Worte, die alles entschieden.
»Und für mich?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte. »Ist für mich nichts dabei?«
Erst jetzt schaute ihre Mutter zu ihr auf. »Was hast du gesagt?« Reyna wagte es kaum, die Frage zu wiederholen. »Hat ... hat José mir denn keinen Brief geschickt?«
Gracia zögerte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. »Leider nein, für dich ist nichts dabei. Nur schöne Grüße.« »Aber da ist doch noch ein zweiter Bogen!« »Meinst du den?«, fragte ihre Mutter und hielt ein Blatt in die Höhe. »Darauf hat er nur seine Idee erläutert, damit ich sie der Gemeinde besser erklären kann. Das wird dich kaum interessieren.« Bevor Reyna danach greifen konnte, ließ sie das Papier in ihrem Ärmel verschwinden und stand auf. »Du musst heute Abend allein essen, ich muss dringend zu Rabbi Soncino.«
14
Die neue Synagoge in Stambul platzte fast aus den Nähten, als Amatus Lusitanus das Gebäude betrat. Dicht an dicht drängten sich die Gläubigen vor dem Thoraschrein, als fielen Pessach, Purim und Jörn Kippur auf einen einzigen Tag. Nur mit Mühe fand Amatus noch einen freien Platz. Heute versammelten sich die Juden zum ersten Mal in ihrer neuen Synagoge, doch sie waren nicht zum Gebet zusammengekommen, sondern zu einer Beratung, die über die Zukunft ihres Volkes entscheiden würde. Die Stifterin der Synagoge, Gracia Mendes, hatte die Rabbiner und Ältesten der wichtigsten jüdischen Gemeinden des ganzen Osmanischen Reiches hierhergebeten, aus Konstantinopel und Edirne, aus Bursa und Saloniki, um gemeinsam mit ihnen zu entscheiden, wie sie auf die Verfolgung ihrer Glaubensbrüder in Ancona reagieren wollten.
Unter dem Gewölbe schwirrte es von spanischen und portugiesischen, französischen und deutschen, polnischen und ukrainischen Lauten.
Doch plötzlich verebbte das Stimmengewirr, und während alle die Hälse reckten, um besser sehen zu können, trat Gracia, angetan mit einem grünen Samtumhang und einer hohen weißen Haube auf dem Kopf, vor den Thoraschrein. Einmal mehr musste Amatus Lusitanus staunen, welche Wirkung allein ihr Erscheinen auf ihre Glaubensbrüder ausübte. Seit Königin Esther hatte das Volk der Juden keine Frau mehr so verehrt wie sie. Doch war das ein Wunder? Er selbst konnte die Augen ja auch nicht von ihr lassen, als sie mit einem Kopfnicken Rabbi Soncino grüßte und dann weiter zur Kanzel schritt. Nein, er bereute nicht, dass er ihretwegen darauf verzichtet hatte, eine andere Frau zu heiraten. Auch wenn sie seine Liebe nie erwidert hatte, war er immer noch genauso fasziniert von ihr wie vor zehn Jahren in Antwerpen.
Während die letzten Gespräche verstummten, stieg Gracia die Treppe zur Kanzel hinauf. Gespannt verfolgte Amatus Lusitanus jede ihrer Bewegungen. Würde es ihr gelingen, die Gemeinde für ihren Plan zu gewinnen? Er wusste ungefähr, was sie sagen würde, und hoffte inständig, dass sie es schaffte, die Versammlung zu überzeugen. Joses Idee war genial, und wenn sein Plan aufginge, würde der Krieg gegen die Juden in Italien vielleicht bald schon ein Ende haben.
Es war jetzt sehr still in dem Gotteshaus, nur noch hier und da hörte man ein einzelnes Hüsteln oder das Knarren einer hölzernen Bodendiele.
»Dürfen wir tatenlos zusehen«, fragte Gracia in die Stille hinein, »wie unsere Glaubensbrüder in Ancona ihres Eigentums beraubt und die Synagogen niedergerissen werden?«
»Nein, Senhora! Nein!«, erwiderte die Gemeinde.
»Dürfen wir zusehen, wie sie schuldlos von ihren Frauen und Kindern getrennt und eingesperrt werden?«
»Nein, Senhora! Nein!«
»Dürfen wir zusehen, wie sie in den Kerkern der Edomiter gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden?« »Nein, Senhora! Nein!«
Gracia hob die Arme, bis wieder Ruhe einkehrte. »Ihr habt recht - das dürfen wir nicht! Viel zu oft haben wir in der Vergangenheit zugesehen, wie unserem Volk Unrecht geschah. Wir wurden aus Spanien und Portugal vertrieben, und wir haben geschwiegen. Wir wurden in den Niederlanden unterdrückt und verfolgt, und wir haben geschwiegen. Wir wurden in Venedig gedemütigt und ins Ghetto verbannt, und wir haben geschwiegen. Doch jetzt ist es genug! Es ist Zeit, dass wir uns zur Wehr setzen! Nicht nur mit Tränen und Gebeten, sondern mit Taten!« »Ja, wir wollen uns wehren!«, rief ein Rabbiner aus Bursa. »Aber wie, Senhora? Was können wir tun?«
»Die
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