Die Gottessucherin
Christen nennen uns Gottesmörder, um uns im Namen ihres dreifaltigen Gottes zu vernichten«, erwiderte Gracia. »Doch wir können den Papst in die Knie zwingen, indem wir die Edomiter mit ihren eigenen Waffen schlagen. Wenn sie uns in Ancona die Inquisition auf den Hals hetzen, damit wir in der Stadt keinen Handel mehr treiben können, dann müssen wir selbst den Hafen dort ächten, bis auch ihr eigener Handel in Ancona erliegt.«
»Aber was wird dann aus unseren Geschäften?«, wollte ein Vertreter aus Edirne wissen. »Ohne einen Hafen in Europa gehen wir selbst bankrott!«
»Ich möchte euch unseren Glaubensbruder Jehuda Faraj vorstellen«, sagte Gracia und zeigte auf einen Mann mit einem schwarzen Barett, den Amatus Lusitanus noch nie gesehen hatte. »Er ist der Sendbote des Herzogs von Pesaro und berechtigt, in seinem Namen zu sprechen.« Sie forderte ihn mit einer Handbewegung auf, vor den Thoraschrein zu treten. »Redet zu uns, Jehuda Faraj. Was lässt der Herzog uns ausrichten?«
Der Fremde stieg auf ein Podest, damit jeder ihn sehen konnte, und wartete, bis aller Augen auf ihn gerichtet waren. Amatus Lusitanus runzelte die Brauen. Warum hatte Gracia ihm nicht von diesem Mann erzählt? War seine Botschaft so wichtig, dass sie seine Teilnahme an der Versammlung glaubte verheimlichen zu müssen?
»Herzog Guidobaldo grüßt die Juden des Osmanischen Reiches und versichert sie seiner Freundschaft«, sagte Jehuda Faraj. »Der Fürst ist entsetzt über die Greuel in Ancona. Er verurteilt sie als schlimmes Unrecht, das dem Volk Israel widerfahren ist, und bietet seine Hilfe an. Um Ersatz für den Hafen von Ancona zu schaffen, ist er bereit, den Hafen von Pesaro zu öffnen, und gibt allen jüdischen und marranischen Kaufleuten die Erlaubnis, dort frei und uneingeschränkt Handel zu treiben.« Ein ungläubiges Raunen erhob sich in der Synagoge. Die Gemeindevertreter sahen von einem zum anderen, Verblüffung und Freude in den Gesichtern. Während das Raunen sich allmählich wieder legte, meldete sich der Rabbiner der italienischen Synagoge zu Wort.
»Die Botschaft erfüllt uns mit großer Hoffnung«, sagte er. »Aber dürfen wir ihr Glauben schenken? Herzog Guidobaldo ist Generalhauptmann der päpstlichen Armee! Wenn wir uns unter seinen Schutz begeben, laufen wir Gefahr, dass er uns irgendwann an Rom ausliefert. Warum sollte er anders handeln als die anderen christlichen Fürsten in der Vergangenheit? Sie haben uns alle verraten, wenn es zu ihrem Vorteil war! Auch der Herzog von Ferrara!«
»Das stimmt!«, rief ein Rabbiner aus Saloniki. »Warum sollen wir dem Herzog von Pesaro vertrauen? Schließlich ist er ein Christ!«
»Ja, ein Edomiter!« »Ein Feind!«
Jehuda Faraj hob seine Hand und wartete, bis die Zwischenrufe aufhörten. »Es gibt einen einfachen Grund, Guidobaidos Worten Glauben zu schenken«, erklärte er dann. »Der Herzog von Pesaro verfolgt an der adriatischen Küste die gleichen Interessen wie wir. Sein Ziel ist es, Venedig und Ancona als Handelsplatz zu verdrängen. Dafür verzichtet er auf sein päpstliches Kapitanat.« »Was ist der Preis?«, fragte ein Greis mit deutschem Akzent. »Zum Ausgleich für den Verlust seiner römischen Pfründe verlangt Guidobaldo die Zusage, dass alle Geschäfte, die bislang über den Hafen von Ancona liefen, in Zukunft über seinen Hafen abgewickelt werden.«
»An wen richtet sich seine Forderung?«
»An alle jüdischen und marranischen Kaufleute, die sich im Osmanischen Reich angesiedelt haben. Dabei verlangt Guidobaldo namentlich die Zusage der Handelsplätze Konstantinopel, Bursa, Saloniki und Edirne.«
»Und was passiert, wenn Juden oder Marranen aus diesen Städten weiter Geschäfte mit Ancona machen?« »Ja, was passiert dann?«, wollte ein Vertreter der spanischen Synagoge wissen. »Gilt dann Guidobaidos Versprechen trotzdem weiter? Oder zieht er dann sein Wort zurück, um seinen Hafen wieder zu sperren und uns zu verraten?«
Plötzlich riefen alle durcheinander, in einem Dutzend verschiedener Sprachen. Konnte man Guidobaldo trauen oder nicht? Die Frage spaltete die Versammlung in zwei Parteien, die miteinander in heftigen Streit gerieten. Jeder redete auf jeden ein, weil jeder glaubte, es besser zu wissen. Ein paar Gemeindeälteste versuchten, die Gemüter zu beschwichtigen, doch niemand achtete auf sie. Man zitierte die Thora und den Talmud, die Mischna und die Halacha, um sich die Worte der heiligen Schriften wie Prügel gegenseitig um die Ohren
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