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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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blieb an der Tafel mit den Zehn Geboten hängen: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Die Buchstaben traten ihm so deutlich entgegen, als wären sie eigens für ihn geschrieben. War es kein Unrecht, zu schweigen? Musste er ihr nicht die Wahrheit sagen, über sich und sein Tun? Damit kein Geheimnis mehr zwischen ihnen lag? »Na los! Worauf wartest du?«
    Als er Gracias Gesicht sah, zuckte er zusammen. Obwohl sie ganz leise gesprochen hatte, sprühten ihre Augen Funken vor Wut -wie Funken an einem Pulverfass.
    Resigniert schüttelte er den Kopf. Nein, es war kein Unrecht zu schweigen, im Gegenteil. Er durfte sie nicht ins Vertrauen ziehen, das Leben zu vieler Menschen stand auf dem Spiel. »Ich kann dir keine Antwort geben«, sagte er.
    »Dann geh und verschwinde!«, rief sie. »Lauf zu deinem Freund, dem König, und mach deine Geschäfte mit ihm!«
     

13
     
    Bittere Reue erfüllte Gracia Mendes nach ihrem Streit am ersten Morgen ihrer Ehe. Statt sich Francisco zu offenbaren, hatte sie sich mit ihm entzweit. Fast ersehnte sie jetzt die Strafe, die das Gesetz für eine Frau wie sie vorsah. Mit ihrem Frevel hatte sie jedweden Anspruch auf die Versorgung durch ihren Mann verwirkt. All die Vorteile und Vergünstigungen, die in der Ketubba standen, wären nach dem Gesetz null und nichtig, sobald die Gemeinde von ihrer Schuld erführe.
    Doch nichts dergleichen geschah. Als hätte es kein Verbrechen gegeben, ging das Leben weiter. Auf den ersten Streit folgte die erste Versöhnung. War Gracia im Haus ihrer Eltern wie eine Prinzessin aufgewachsen, lebte sie nun im Haus ihres Mannes wie eine Königin. Es fehlte ihr weder an Nahrung noch an Kleidung - gleich mehrere Zofen und Bedienstete hatte Francisco für sie angestellt, wie um sie zu beschämen -, und auch an „fleischlichem Umgang" mangelte es nicht. Jedes Mal, wenn die Tage ihrer Unreinheit vorüber waren und sie die Mikwa genommen hatte, wohnte ihr Mann ihr bei. Aber die zarten Fäden, die Salomos Worte in der Hochzeitsnacht zwischen ihnen gesponnen hatten, waren bei dem Streit wie Spinnweben zerrissen. Bedrückendes Schweigen herrschte in der Rua Nova dos Mercadores. Gracia und Francisco teilten zwar Tisch und Bett miteinander, aber ihre Herzen blieben einander verschlossen. Bei den Mahlzeiten wechselten sie nur wenige Worte, und in stummer Selbstvergessenheit genossen sie die Lust, die ihre Leiber des Nachts einander spendeten. Immer wieder nahm Gracia Anlauf, dieses Schweigen zu durchbrechen, immer wieder nahm sie sich vor, mit Francisco zu sprechen, ihm ihre Verfehlung zu beichten. Doch sie schaffte es nicht, über ihren Schatten zu springen - zu groß war das Unrecht, in dem sie sich gefangen fühlte. Sollte sie sich vor einem Mann erniedrigen, der sie in die Ehe gezwungen hatte? Einem Heuchler und Verräter, der dem Götzendienst in der Kathedrale wie der schlimmste Edomiter frönte? Der die Geschäfte mit dem König über das Wohl ihrer Seele stellte? Nein, das konnte Gottes Wille nicht sein.
    So blieb das Bewusstsein ihrer Schuld in Gracias Seele, und nur die Gnade und Barmherzigkeit des Haschern könnte sie davon befreien. Seine Verzeihung wog schwerer als die Verzeihung ihres Mannes, schwerer als alles Verzeihen der Menschen. Noch nie hatte sie deshalb mit solcher Inbrunst Jörn Kippur entgegengefiebert wie in diesem Jahr, dem Sühne- und Versöhnungstag, dem heiligsten Tag der Juden, an dem das göttliche Urteil besiegelt wird und Gott jedes Unrecht tilgt und seinen Frevlern Gnade erweist, sofern sie bereit sind, sich in Reue zu erneuern. Unendlich langsam vergingen die Wochen und Monate, bis endlich das Neujahrsfest kam und mit ihm die Zeit der Umkehr. Zehn Bußtage waren es, vom Neujahrstag bis Jörn Kippur. In dieser Spanne entschied der König und Herr, ob die Verdienste oder die Fehler eines Menschen überwogen. Denn am Neujahrstag öffnete er drei Bücher: In das erste trug er die Gerechten ein, die sofort das Siegel des Lebens erhielten, während er in das zweite die Bösen einschrieb, mit dem Siegel des Todes. Das dritte Buch aber war für die Schwankenden bestimmt, die sowohl Verdienste erworben als auch Sünden begangen hatten, und die endgültige Entscheidung über sie wurde bis Jörn Kippur aufgehoben. Wie würde das Urteil über Gracia Mendes lauten?
     
     

14
     
    Der Gottesdienst des Versöhnungstages begann mit dem Fürsprachegebet, am Vorabend von Jörn Kippur. Eingestimmt durch strenges Fasten, war Gracia seit

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