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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Sonnenuntergang in der alten Synagoge, wie die ganze Gemeinde. Trotz der Gefahr, dass Verräter oder Spione Beweise gegen sie sammelten, wollten alle Juden diesen Tag in ihrer Synagoge feiern. Zusammen mit den anderen Frauen betete Gracia im hinteren Teil des Raumes, der durch eine Mauer vom Bereich der Männer abgetrennt war. Nur durch ein Loch in der Wand konnte sie darum auf den Thoraschrank blicken. Doch als der feierliche Klagegesang anhob, war es, als stiege mit den uralten Klängen ihre eigene Zerknirschung zum Himmel empor.
    »Du hast den Menschen erwählt, um ihm ein gutes Ende zu bereiten und ihm zwei Triebe zu geben: den guten und den bösen Trieb, damit er zwischen Gutem und Bösem wählen könne: Ich aber, mein Herr, habe nicht auf deine Stimme gehört und bin dem Rat des Bösen und der Stimme meines Herzens gefolgt und habe das Gute verschmäht. Nicht nur, dass ich meine Glieder nicht geweiht habe, habe ich sie gar verunreinigt ...« Wusste Gott, warum sie in sein Haus gekommen war? Der Thoraschrank wurde geöffnet, und während zwei Gemeindemitglieder die Schriftrollen aufstellten, trat der Chasan vor den Schrank, um die Entbindung von den Gelübden zu verkünden. Gracia hätte sich am liebsten die Ohren verstopft, um die Worte nicht zu hören - solange sie denken konnte, hatte sie dieses Gebet aus tiefster Seele verachtet, als eine Lüge vor dem Herrn. Es entband alle Juden in der Glaubensfremde von ihrer Pflicht, sich zum Judentum zu bekennen, und gab ihnen die Erlaubnis, gemeinsam mit Christen zu beten. War es da ein Wunder, wenn jüdische Scheinchristen nur zum Schein noch Juden waren ?
    »Das ganze Jahr über können wir nicht die Gebote befolgen und müssen uns wie Christen verhalten, gegen unseren Willen. Doch wisset: Wir waren und sind Juden, durch und durch!« Während die andern die Worte sprachen, die ihr nicht über die Lippen wollten, begriff sie mit stummem Entsetzen, wie tief sie selbst in die Lüge verstrickt war. War das Marranentum, ihr christliches Lippenbekenntnis, nicht auch die Quelle ihrer eigenen Sünde? Hatte ihr Doppelleben nicht auch sie zur Lüge gezwungen? Als ihr Versuch, im falschen Leben das Richtige zu tun ? Den ganzen Heimweg über verfolgte sie der quälende Gedanke, und ihre Hand zitterte noch, als sie zu Hause das Seelenlicht entzündete, eine lang brennende Kerze, deren Schein die Nacht über ihre Schlafkammer erhellte, um daran zu erinnern, dass dies die letzten dunklen Stunden vor Erlangung der Versöhnung waren. »Die Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, die Sünden gegen den Mitmenschen nur dann, wenn er diesen zuvor versöhnt hat.«
    Während Gracia wachte, schlief Francisco tief und fest, ohne sich an den flackernden Schatten zu stören, die wie Dämonen auf seinem Gesicht tanzten. Wer war dieser Mann? Sie hatte geglaubt, Francisco zu kennen, doch je länger sie zusammenlebten, umso fremder wurde er ihr. Manchmal, des Nachts, wenn sie in seinen Armen lag, wähnte sie sich für Augenblicke selig-süßer Ohnmacht eins mit ihm, meinte gar mit ihm gen Himmel zu fahren, als wolle ihr Leib sie glauben machen, dass er wirklich und wahrhaftig jener Mann sei, der die Worte des Hoheliedes zu sprechen würdig war. Aber bei Tage und wachem Verstand kamen ihr Zweifel, und Francisco erschien ihr wie ein Mann mit zwei Gesichtern, der die heiligen Verse missbraucht hatte, um ihre Sinne zu betören und ihre Urteilskraft zu schwächen. Unsicher tastete sie nach seiner Hand. War der Moment gekommen, um endlich ihr Schweigen zu durchbrechen? Doch als sie die Lust ihres Leibes spürte, die Lust, seinen Körper zu berühren, zog sie ihre Hand zurück. Auf einem Schemel lag schon ihr weißes Gewand für den nächsten Tag bereit.
    »Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie Wolle.«
    Als der Morgen endlich kam, tauchte Gracia nicht wie sonst beide Hände ins Wasser, sondern benetzte sich nur die Finger, um sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. Denn an diesem Tag durfte kein Jude sich waschen oder salben, so wenig wie Mann und Frau miteinander verkehren durften. Alles Irdische galt es am Sühnetag abzuwerfen, nichts Körperliches sollte das Geistige verunreinigen, damit der Mensch den dienenden Engeln gleich werde.
    »Aus der Tiefe, rufe ich, Herr, zu dir ...«
    Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang dauerte der Gottesdienst. Fünf Schritte waren zur Umkehr

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