Die Gottessucherin
Geißel über sie verhängen. Warum tat sich der Boden nicht auf, um sie zu verschlingen? Doch der Boden unter ihren nackten Füßen war aus festem, kaltem Stein und sicher verfugt.
Sie ging in das große gekachelte Bad, das Francisco eigens zu ihrer Bequemlichkeit hatte errichten lassen, und zog ihr Hemd aus. Auch auf dem Hemd war ein dunkelroter Fleck. Mit beiden Händen zerriss sie das Leinen und warf es fort, um es nie wieder zu tragen. Dann wusch und scheuerte sie sich, mit Bimsstein bearbeitete sie ihren Körper, vom Hals bis zu den Zehen, bis ihre Haut wund und weh davon war. Allein, es war vergebens. Denn schlimmer als jedes äußeres Zeichen war das Bewusstsein von ihrer Schuld. Als weiße Taube hatte sie sich erhoben, um vor Gott und ihrem Gewissen Treue zum Glauben ihrer Väter zu beweisen. Doch dann war sie sich selbst zum Opfer gefallen, ihrem Hochmut und ihrer fleischlichen Neugier ... Nun war ihre Seele befleckt, besudelt von ihrem eigenen Blut. Draußen hörte sie Schritte. War das ein Dienstbote? Oder Francisco? Sie eilte zur Tür und überprüfte den Riegel. Den Türgriff in der Hand, lauschte sie auf die Geräusche im Haus. Sie musste mit Francisco reden, ihm ihre Schuld offenbaren. Nur wenn sie ihm das Unrecht, das sie ihm angetan hatte, gestand, konnte Gott ihr verzeihen. Es stand ja geschrieben, was ihre Glaubenspflicht war: »Die Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag, Sünden gegen den Mitmenschen nur dann, wenn er diesen zuvor versöhnt hat.«
Draußen verhallten die Schritte, doch Gracia rührte sich nicht. Nein, sie brachte es nicht über sich, die Tür zu öffnen. Obwohl sie nichts mehr wollte, als ihre Schuld zu gestehen, hatte sie vor nichts größere Angst als vor der Begegnung mit ihrem Mann. Wie sollte sie Francisco in die Augen sehen, mit dieser Schuld auf dem Gewissen? Sie kannte sich und ihren Jähzorn. Je mehr sie sich bedrängt fühlte, desto heftiger schlug sie um sich; je mehr sie litt, desto wütender griff sie an; und je mehr sie spürte, dass sie im Unrecht war, desto ungerechter wurde sie selbst. Nein und noch mal nein, sie durfte Francisco nicht begegnen, nicht jetzt, nicht in dieser Verfassung - zu groß war die Gefahr, dass sie alles zerstörte.
Wie ein Tier in der Falle, starrte sie gegen die Tür. Wohin könnte sie sich verkriechen? Wo Zuflucht finden, vor sich selbst und ihrer Schuld?
12
Morgendliches Geklapper drang aus der Küche und der Duft von frisch gebackenem Brot, als Francisco die Schlafkammer verließ. Er hatte Hunger wie ein Löwe - das erste Frühstück mit seiner Frau! Hoffentlich wartete Gracia auf ihn. Er hatte im Erkerzimmer den Tisch decken lassen, mit kostbarem chinesischem Porzellan, das erst vor wenigen Tagen mit der Esmeralda gekommen war, und unter allen Tellern und Tassen hatte er kleine, glitzernde Überraschungen für sie versteckt, Ohrringe und Ringe, Reifen und Armbänder, als Zeichen seiner Liebe. Er wollte dabei sein, wenn sie die Schmuckstücke entdeckte, wollte die Freude in ihren Augen sehen.
Wie ein junger Mann eilte er die Treppe hinunter. Gott sei Dank, der Tisch im Erkerzimmer war unberührt. War sie vielleicht noch im Bad? Auf dem Absatz machte er kehrt. Aber auch im Bad war sie nicht, nur ein paar gebrauchte Tücher lagen auf der gekachelten Bank. Francisco hielt sie ans Gesicht und schloss die Augen. Ja, Gracia war hier gewesen, in den Tüchern hing noch ihr Duft, der Duft des Libanon. Wie im Traum kehrten die Bilder der Nacht zurück: ihr schimmernder Leib, die Worte, die sie getauscht hatten, die Blicke, die Küsse, die Liebkosungen ... Hatte sich das Wunder wirklich ereignet? Oder hatte er alles nur geträumt?
Als er die Augen aufschlug, sah er in einer Ecke ihr zerknülltes Hemd, voller Blut. Vor Freude machte sein Herz einen Sprung. Ja, sie war seine Frau, er hatte sie wirklich und wahrhaftig erobert! Im selben Moment wusste er, wo Gracia war. Ohne auf die Dienstboten zu achten, die ihn auf dem Treppenabsatz begrüßten, lief er hinab in das Kellergewölbe, wo er ein Bethaus eingerichtet hatte. Seit es Spitzel in der Stadt gab, war es zu gefährlich geworden, die richtige Synagoge für das tägliche Gebet aufzusuchen.
»Da bist du ja ...«, flüsterte er.
Nein, er hatte sich nicht geirrt. Vor dem Thoraschrank, im Schein des Ewigen Lichts, kniete Gracia auf dem Boden, das Haar lose mit einem Schal bedeckt. Bei ihrem Anblick begriff er, warum Rabbi Soncino das Gebet als Gottesdienst des
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