Die Gottessucherin
vonnöten: Erkenntnis und Reue, Aufgeben, Beichte und Verpflichtung. Erst dann würde Gott sein Urteil verkünden: wer zu den Gerechten gehörte, wer zu den Bösen, wer zu den Schwankenden. Würde er Gracia wieder in das Buch des Lebens einschreiben? »Öffne uns das Tor zur Zeit, da die Tore sich schließen, denn der Tag hat sich geneigt.«
Die traurigen Klänge des Schlussgebets erfüllten Gracia mit Angst und Hoffnung zugleich. Hatte sie gegen Gott gesündigt? Von so schmerzlicher Süße war die Melodie, die der Kantor anstimmte, dass Tränen ihr in die Augen traten, als sie in den Gesang einfiel.
»Du reichst die Hand den Frevlern, und deine Rechte ist ausgestreckt, um Rückkehrende aufzunehmen ...« Früher, im Tempel von Jerusalem, war zu Jörn Kippur der Hohepriester allein in das Allerheiligste getreten, um dort für das ganze Volk die Vergebung der Sünden zu erlangen, indem er die Bundeslade mit dem Blut zweier Opfertiere besprengte und das Los über zwei Böcke warf. Einer der Böcke wurde geopfert, der andere in die Wüste gejagt, beladen mit den Sünden der Juden, um ihre Schuld an den bösen Geist zurückzusenden, der in der Wildnis hauste. Während die Gemeinde die Stimme erhob, um mit ihrem Bittgesang die himmlischen Tore der Barmherzigkeit zu öffnen, sah Gracia durch den Schleier ihrer Tränen Francisco in den Reihen der Männer. Trug er nicht Mitschuld an ihrer Sünde? Hatte nicht er sie mit den Worten der Heiligen Schrift zur Sünde verleitet, mit Worten, die er voll heißem Verlangen auf den Lippen führte, die in seinem Herzen aber längst erkaltet waren?
»Wir haben uns verschuldet, treulos waren wir ...« Ganz leise, kaum mehr als ein Flüstern, sprach Gracia das Sündenbekenntnis, flehte damit zu Gott, dass er ihr vergeben möge und sie von der Sünde befreie, die sie mit ihrem Mann begangen habe.
»Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig! Gepriesen sei Gottes ruhmreiche Herrschaft immer und ewig!« Und während die Gemeinde siebenmal die Anrufung Gottes wiederholte, damit der Ruf alle sieben Himmel erreichte, gelobte Gracia, ihrer Sünden zu entsagen und ihre Fehler abzulegen, um ihre Umkehr zu vollenden, bevor das Schofar geblasen wurde, das Widderhorn, dessen Signal alle Verstreuten Israels zusammenrief, zur Versöhnung und Beendigung dieses Tages. »Schreib uns ein ins Buch des Lebens.«
15
Nur ein paar Wochen nach Jom Kippur blieb ihre Monatsregel aus.
Gracia schwankte zwischen Freude und Bestürzung. Was hatte das zu bedeuten ? Schickte Gott ihr ein Zeichen seiner Vergebung ? Oder wollte er sie strafen, indem er sie von einem Verräter schwanger werden ließ ?
Francisco war wie von einer Last befreit. In der Hoffnung auf einen Stammhalter der Firma Mendes erweiterte er das Haus in der Rua Nova dos Mercadores um ein weiteres Stockwerk, und die besten Baumeister und Handwerker der Stadt waren nicht gut genug, um seinen Ansprüchen zu genügen. Aus dem ganzen Land rief er Steinmetze und Drechsler, Tischler und Maler herbei, um die Heimstatt für seinen Sohn zu bereiten. Das Richtfest war kaum vorüber, da kam Gracia nieder. Es war eine schwere Geburt, die Kunst der Hebamme reichte nicht aus, ein Arzt musste hinzugezogen werden, und erst nach endlosen Stunden, in denen die Hölle der Niederkunft sie in immer heftigeren Wehen heimgesucht hatte, erlöste der Schrei ihres Kindes sie von ihren Qualen.
»Was ist es?«, fragte Gracia. »Ein Junge oder ein Mädchen?« »Ein Mädchen«, sagte die Hebamme und legte ihr den nackten kleinen, blutverschmierten Leib an die Brust. »Ein Mädchen?«, flüsterte sie. »Das ist gut.« Während Gracia ins Kissen sank, spürte sie, wie ihr Kind nach ihr suchte, und als das Mündchen gleich darauf zu saugen begann, ohne dass sie helfen musste, empfand sie ein Glück, wie sie es noch nie empfunden hatte. Alle Zweifel waren verstummt. Gott der Herr hatte ihr vergeben und sie wieder ins Buch des Lebens eingeschrieben.
Die Hebamme nickte. »Habt Ihr schon einen Namen für sie?« Gracia schaute auf ihre Tochter, und als sie das rosige Gesichtchen sah, das sich an ihre Brust schmiegte, um mit geschlossenen Augen von ihrer Milch zu trinken, durchflutete sie ein Gefühl solcher Dankbarkeit, als habe Gott ihr selbst ein zweites Mal das Leben geschenkt, und ohne Zögern entschied sie: »Reyna soll sie heißen - Reyna, die Königin!«
16
Das bärtige Kinn des Königs troff von Schweinefett. »Euer Handelsagent aus Antwerpen
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