Die Gottessucherin
kreiste immer wieder durch ihren Kopf. Warum hatte Gott zugelassen, dass Reyna sie verließ? Wollte er ihr noch eine Prüfung auferlegen? Die letzte und schwerste Prüfung, die es überhaupt gab?
»Ich habe keine Tochter mehr«, flüsterte sie. »Was sagt Ihr da?«, fragte Rabbi Soncino. Gracia drehte sich um. »Mein Entschluss steht fest«, erklärte sie. »Der Boykott wird fortgesetzt. Ich habe dafür gekämpft, mit allen Mitteln, die mir zu Gebote standen, und die Gemeinde hat es so beschlossen. Ein Zurück gibt es nicht mehr.« »Auch auf die Gefahr, dass sie Dom José verbrennen?« Gracia sah das Entsetzen in seinem Gesicht, doch sie hielt seinem Blick stand. »Soll das Leben eines einzelnen Menschen über das Schicksal unseres ganzen Volkes entscheiden?«, erwiderte sie. »Selbst Jesus, der sanftmütige Sohn des Christengottes, hat von seinen Jüngern verlangt, dass sie ihre Familien verlassen, um ihm zu folgen.«
»Und was ist mit Reyna?«, fragte Rabbi Soncino. »Sie ist Eure Tochter!«
»Habt Ihr mich nicht verstanden?«, rief Gracia. »Ich habe keine Tochter mehr! Sie hat es selbst so entschieden. Lieber will sie sterben als unter meinem Dach leben! Das sind ihre eigenen Worte!«
Auch Rabbi Soncino erhob jetzt seine Stimme. »Wenn Ihr weder für Eure Tochter noch für Euren Neffen nachgeben wollt, dann tut es für all die anderen unserer Glaubensbrüder in Italien! Der Herr hat sie Euch anvertraut. Sie sind Eure Schutzbefohlenen.« »Alles, was ich tue, tue ich ausschließlich und allein für mein Volk.«
»Und die juden in Pesaro? Was ist mit ihnen? Wenn Herzog Guidobaldo ihnen das Asyl entzieht, wird es ein neues Blutbad geben! Ein Gemetzel! Wie damals in Ferrara!« »Wie klein ist Euer Glaube, Rabbi Soncino! Gott ist bei uns, habt Vertrauen! Er wird jeden schützen, der seine Hilfe verdient.« »Es ist genug, Dona Gracia! Ich beschwöre Euch!« »Genug?« Sie schüttelte den Kopf. »Genug ist es erst, wenn wir die Edomiter besiegt haben. Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Sie trat zurück ans Fenster. »Esther hat auch nicht davor zurückgescheut, Blut für unser Volk zu vergießen. Tausende sind damals gestorben.«
»Wollt Ihr damit den Tod weiterer Menschen rechtfertigen?«, fragte Rabbi Soncino.
»Gott allein wird entscheiden«, erwiderte sie. »Er hat mir diese Prüfung auferlegt.«
Während sie beide schwiegen, flog draußen ein großer Nachtvogel am Fenster vorbei. Mit schweren, lautlosen Schwingen verschwand er in der Finsternis.
»Ihr seid also nicht bereit, nachzugeben?«, fragte Rabbi Soncino. »Auf gar keinen Fall.«
»Dann muss ich Euch die Gefolgschaft kündigen. Ich kann die Blockade nicht länger unterstützen.«
»Soll das heißen - Ihr lasst mich im Stich?«, fragte Gracia.
»Ihr wollt unser Volk gegen die ganze Welt verteidigen. Aber Ihr habt deshalb nicht das Recht, die Gesetze unseres Glaubens zu übertreten.«
Wütend fuhr sie zu ihm herum. »Und Ihr habt kein Recht, so mit mir zu reden! Auch wenn Ihr mein Freund seid!«
»Ich spreche nicht als Euer Freund, sondern als Euer Rabbiner«, entgegnete er. »Solange ich zurückdenken kann, habt Ihr Euch über das Gesetz erhoben und Euch Rechte angemaßt, die niemandem zustehen. Vor Eurer Hochzeit habt Ihr die Gemeindefrauen belogen, Ihr habt das Tauchbad genommen, obwohl die zweimal sieben Tage noch nicht vorbei waren, und Ihr habt als Nidda Eurem Mann beigewohnt. Bis heute habt Ihr Euch nicht verändert. Immer wollt Ihr Gott beweisen, dass Euer Glaube größer ist als der Glaube aller anderen Menschen, auch wenn Ihr selbst dafür sündigen müsst.«
»Wie könnt Ihr es wagen?«, schnaubte Gracia. »Ausgerechnet Ihr, Rabbi Soncino! Ihr selbst habt mich auf den Weg gebracht, den Ihr heute verdammt. Ich wollte das Erbe, das Gott mir aufgebürdet hat, ablehnen, als Dom Diogo starb. Brianda sollte alles haben, das wisst Ihr so gut wie ich, aber Ihr habt mich gezwungen, das Testament anzunehmen. Weil es der Wille Gottes sei - habt Ihr damals gesagt. Habt Ihr das vergessen? Ich sollte das Werk fortsetzen, das Dom Diogo und mein Mann begonnen hatten.«
Rabbi Soncino strich sich über den Bart. »Vielleicht habe ich mich damals geirrt.«
»Nein, das habt Ihr nicht! Es war Gottes Entschluss, dass ich Eurem Rat gefolgt bin. Wir haben Tausenden von Menschen das Leben gerettet! Soll das ein Irrtum gewesen sein?« Sie blickte ihn an in der Hoffnung, dass er irgendetwas sagte. Doch sein Mund blieb stumm. »Begreift Ihr denn nicht?«, rief
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