Die Gottessucherin
sprechen. Wir sind Verwandte.« »Verwandte? Soso. Ich glaube, die Patres sind gerade in einer Disputation. Ich schaue mal in der Bibliothek nach.« »Lasst Euch nur Zeit. Wir warten.«
Ohne das Tor zu schließen, wandte der Kustos sich ab und verschwand mit schlurfenden Schritten. »Ihr seid mit Fernando Moro verwandt?«, fragte Reyna. »Eine verschlüsselte Botschaft«, entgegnete Amatus Lusitanus. »Damit mein Freund weiß, dass Glaubensbrüder auf ihn warten.« Er nickte ihr zu, um sie aufzumuntern, doch drückte sein Gesicht so wenig Zuversicht aus, dass Reyna nur noch schmerzlicher spürte, in welcher Lage sie sich befanden. Weder sie noch Amatus Lusitanus hatte einen Plan - nur die vage Hoffnung, mit Fernando Moros Hilfe José irgendwo in dieser Stadt zu finden. Was dann geschehen würde, stand in den Sternen. Sie wussten ja nicht einmal, ob José überhaupt noch lebte. Zum Glück blieb Reyna keine Zeit für ihre Angst. Rasche Schritte näherten sich, und gleich darauf tauchte im Türspalt ein Mönch auf, der ungefähr so alt war wie ihr Begleiter. Als er Amatus sah, begann sein Gesicht zu strahlen, als habe jemand darin ein Licht angezündet.
»Amatus Lusitanus?«, rief er. »Bist du es wirklich?« »Fernando Moro!« Die beiden Männer umarmten sich. »Du hast mich gleich wiedererkannt? Nach so vielen Jahren?« »Na, hör mal - ein solches Feuermal gibt es kein zweites Mal! Aber du bist nicht allein?«, fügte er mit einem Blick auf Reyna hinzu. »Deine Tochter?« Noch bevor Amatus antworten konnte, wurde Fernandos Gesicht ernst. »Seid ihr etwa freiwillig in diese Hölle gekommen?«, flüsterte er. »Dann müsst ihr gute Gründe haben.«
»Wir brauchen deine Hilfe«, erwiderte Amatus, ebenso leise. »Können wir irgendwo ungestört reden?« Fernando Moro schaute sich um. »Kommt mit«, sagte er dann und winkte den beiden.
31
Ich habe keine Tochter mehr ... Ich habe keine Tochter mehr ... Nach dem Bruch mit Rabbi Soncino hatte Gracia kein Auge zugetan. Wie im Fieber hatte sie sich die ganze Nacht in ihrem Bett hin- und hergeworfen, und wollte der Schlaf sie von ihren Qualen erlösen, nahmen ihre Ängste im Traum nur umso schlimmere Gestalt an. Reyna, die einsam und verloren auf einem Floß über den Ozean trieb ... Reyna, die von Häschern der Inquisition überwältigt wurde ... Reyna, die an den Händen gefesselt vor Cornelius Scheppering trat ...
Immer wieder war Gracia aus dem Schlaf aufgeschreckt, schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd. Um den Alpträumen zu entfliehen, war sie mitten in der Nacht ins Bad gegangen und hatte sich am ganzen Leib mit kaltem Wasser gewaschen, wieder und wieder, Stunde um Stunde. Doch vergebens. Die Schreckensbilder ihrer Seele hatten sich so wenig verflüchtigt wie der Angstschweiß auf ihrer Haut.
Warum hatte Gott ihr diese fürchterliche Prüfung auferlegt? Im Morgengrauen, der neue Tag war noch nicht angebrochen, hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Rabbi Soncino hatte recht: Sie musste den Sultan um Hilfe bitten. Doch wie konnte sie das tun, ohne ihre Mission zu verraten?
Sie trat an ihr Pult und schrieb Süleyman einen Brief. Ohne den Namen ihrer Tochter oder ihres Neffen zu erwähnen, bat sie darin den Herrscher der Osmanen, sich beim Papst für ihre Glaubensbrüder von Ancona einzusetzen. Der Sultan solle freies Geleit für alle Untertanen seines Reiches verlangen, die in der italienischen Hafenstadt bedroht waren, und im Fall der Missachtung dem Vatikan mit Vergeltung drohen. Nur drei Tage später erhielt sie Antwort. Doch nicht von Süleyman selbst, sondern von seiner Favoritin. Roxelane rief sie zu sich in den Palast. Gracia schöpfte Hoffnung. Gab es vielleicht doch eine Lösung? Eine Lösung, die sie vor Gott und vor ihrem Volk verantworten konnte, ohne das Leben ihrer Tochter zu zerstören?
»Selamün aleyküm.« »Ve aleyküm selam.«
Roxelane empfing sie im Divan Salonu, dem vom Turm der Gerechtigkeit bekrönten Pavillon im zweiten Hof des Topkapi-Serails, wo sich sonst die Wesire des Obersten Rates trafen, um über wichtige Regierungsfragen zu entscheiden.
»Ihr habt den Herrscher um Beistand gebeten?«, eröffnete die Favoritin mit Hilfe ihres kastrierten Dragomans das Gespräch. »Die Lage in Ancona spitzt sich immer mehr zu«, erwiderte Gracia. »Der Papst lässt Scharen jüdischer Kaufleute verhaften. Er stiehlt ihren Besitz und trachtet nach ihrem Leben. Hunderte wurden bereits inhaftiert und gefoltert, und viele Dutzende wurden
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