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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Kraft zum Sterben.
    José wollte gerade wieder von vorn anfangen zu zählen, da ertönte draußen plötzlich ein Lärm, als würde eine Horde Barbaren einfallen. Schwere Stiefelschritte eilten über den Gang, Schlüssel rasselten, Türen wurden geschlagen, während Dutzende von Stimmen durcheinanderschrien. Ein lauter Knall - und seine Zellentür flog auf. José wusste nicht, wie ihm geschah. Träumte er oder passierte wirklich, was er zu sehen glaubte? Dutzende von Gefangenen hasteten an seiner offenen Tür vorbei, manche noch mit Ketten an den Gliedern, und drängten in Richtung der Treppe, die hinauf zum Ausgang führte. Ein Soldat stand mit gezücktem Degen auf der untersten Stufe und versuchte die Fliehenden aufzuhalten. Doch bevor der erste Flüchtling die Treppe erreichte, krachte ein Schuss, und leblos sank der Uniformierte zu Boden. Lauter Jubel erscholl. »Gott sei gepriesen!« Beim Anblick des Toten erwachte José aus seiner Erstarrung. Während die Flüchtlinge über die Leiche hinwegstampften, ohne auf den Toten zu achten, versuchte er die Kette, die ihn zurückhielt, aus der Verankerung zu reißen. Doch die eiserne Fessel saß so fest in der Felswand, dass er sich nur die Hände und Gelenke blutig scheuerte. »Hilfe! Ich brauche Hilfe!«
    Wie ein Verrückter zog und zerrte er und schrie sich gleichzeitig die Seele aus dem Leib. Aber kein Mensch kümmerte sich um ihn. Jeder hatte es eilig, jeder dachte nur an sich und suchte das Weite, um so rasch wie möglich zu entkommen. »Dom José Nasi?«
    Als er seinen Namen hörte, fuhr José herum. In der Tür stand ein Jesuit - in der einen Hand eine Pistole und in der anderen ein Schlüsselbund.
    José brachte keinen Ton hervor. Wie ein Idiot nickte er nur mit dem Kopf.
    »Gott sei es gedankt!«
    Der Mönch drückte ihm die Pistole in die Hand und steckte einen Schlüssel in das Schloss, mit dem die Eisenkette an seinem Fuß befestigt war.
    »Verdammt!« Der Schlüssel passte nicht. »Wer seid Ihr?«, fragte José.
    »Später!«, zischte der Mönch. »Wir haben jetzt keine Zeit! Sie können jeden Moment kommen!«
    Während er den nächsten Schlüssel probierte, starrte José auf die rauchende Mündung der Pistole. Wer war dieser Mensch? Warum wollte er ihn befreien? Als würde er seine Gedanken erraten, hob der Mönch kurz den Blick.
    »Eure Verlobte hat mich geschickt«, sagte er, während er abermals einen Schlüssel in das Schloss steckte. »Reyna?«, fragte José ungläubig. »Reyna Mendes?« Im selben Moment schnappte das Schloss auf. »Ja! Herrgott noch mal!«, fluchte der Mönch. »Worauf wartet Ihr noch? Los, vorwärts! Nichts wie weg!«
     

33
     
    »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.«
    Aufrecht, ohne sich mit Armen oder Ellbogen aufzustützen, kniete Cornelius Scheppering vor dem Altar seiner Ordenskirche Santa Maria della Misericordia und betete zur Heiligen Jungfrau. Obwohl er vor Schwäche schwankte und das Bildnis der Sternenbekrönten vor seinen kranken Augen im Kerzenlicht verschwamm, wurde er nicht müde in seinem heiligen Flehen zur Gottesgebärerin, die, selbst im Mutterleib von der Erbsünde befreit, bei Gott bereits vollendet war, so wie alle Menschen dermaleinst vollendet werden sollten. Als Mutter der Gläubigen,
    war sie den Weg zur Vollkommenheit vorausgegangen, um zur Rechten ihres Sohnes zu sitzen, Mutter der Kirche und der göttlichen Gnade, des guten Rates und der Barmherzigkeit. Sie flehte Cornelius Scheppering um Hilfe an auf seinem Weg zum Heil, damit sie ihm Kraft gebe, das Werk zu vollenden, das Gott ihm aufgetragen hatte. Als Knecht Gottes wollte er sich endlich und für immerdar aus der Knechtschaft seines Leibes befreien, aus dem faulig stinkenden Gefängnis seiner Seele, das ihn wieder und wieder gehindert hatte, den Willen des Herrn zu tun, nämlich die Geringen, Machtlosen und Hungernden aufzurichten, die Mächtigen, Reichen und Hochmütigen aber von ihren Thronen zu stürzen und der ewigen Verdammnis anheimzugeben. »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.«
    Während seine welken Lippen die köstlich süßen Worte sprachen, schmerzte sein Leib bei jeder Bewegung, als läge er auf der Streckbank, um schon vor dem Tod für seine Verfehlungen zu büßen. Seine Sinne verfinsterten sich, und schwarze Nacht umfing ihn, wie vor Jahren im Urwald, an den Ufern des Amazonas. Wieder hörte er das Zischeln der Schlange im Unterholz, das

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