Die Gottessucherin
in die Richtung, in die sie zeigte. Die ersten Soldaten waren von ihren Pferden gesprungen und stürmten mit gezogenen Säbeln auf sie zu. Einer lag reglos am Boden. »Ihr müsst ins Boot!«, rief Fernando Moro und lud seine Pistole nach. »Ich halte sie auf!«
José schaute einmal nach rechts, einmal nach links. Wie sollte ein Mann allein die heranstürmenden Soldaten aufhalten? Fernando Moro konnte nur in einer Richtung das Boot absichern, auf der anderen Seite hatten die Soldaten freie Bahn. José brauchte keine Sekunde, um zu wissen, was er zu tun hatte. »Lauf vor!«, rief er Reyna zu, während er dem toten Soldaten den Säbel aus der Hand riss.
»Und du?«
»Ich komme nach!«
Obwohl José ahnte, dass dies die letzten Worte waren, die er je zu ihr sagen würde, log er sie an. Reyna konnte nur fliehen, wenn er zurückblieb und seine Seite verteidigte, bis ihr Boot außer Gefahr war. Wenn er versuchte, mit ihr zu fliehen, würden sie beide sterben.
Reyna stand da und starrte ihn an, ohne sich zu rühren. »Los!«, schrie er. »Worauf wartest du?«
Ohne zu überlegen, was er tat, versetzte er ihr einen so heftigen Stoß, dass sie Amatus Lusitanus in die Arme taumelte.
35
Wie die dienenden Engel, die dem Propheten Ezechiel im Traum erschienen waren, schloss Gracia Beine und Füße fest zusammen, als wären diese ein Bein und ein Fuß, bevor sie mit dem Achtzehngebet begann. Wenn man vor Gott stand, war es verboten, sich nach rechts oder links zu wenden oder seine Gedanken wandern zu lassen. Sie hob die Hände und beugte ihr Haupt, um den ersten Segensspruch zu sprechen.
»Gelobt seiest du, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Väter, Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, großer, starker und furchtbarer Gott, der du beglückende Wohltaten erweisest und Eigner des Alls bist, der du der Frömmigkeit der Väter gedenkst und einen Erlöser bringst ihren Kindeskindern um deines Namens willen in Liebe. König, Helfer, Retter und Schild! Gelobt seiest du, Ewiger, Schild Abrahams!«
Nachdem sie Gott gelobt hatte, wie das Gesetz es vor jedem Bittgebet verlangte, trat sie drei Schritte vor, um Gott ihr Herz zu öffnen. Als Moses auf den Berg Sinai gestiegen war, hatte er drei Hindernisse zwischen sich und Gott überwinden müssen: Finsternis, Wolke und Nebel - dieselben Hindernisse, die Gracia nun als Trübung ihrer Seele verspürte und die sie mit den drei symbolischen Schritten zu überwinden hoffte.
»Du begnadest den Menschen mit Erkenntnis und lehrst den Menschen Einsicht, begnade uns von dir mit Erkenntnis, Einsicht und Verstand. Gelobt seiest du, Ewiger, der du mit Erkenntnis begnadest!«
Würde der König und Herr ihr die Kraft geben, der fürchterlichen Versuchung zu widerstehen, der sie bei Tag und bei Nacht ausgesetzt war? Der Versuchung, die Liebe zu Gott für die Liebe zu einer Tochter zu opfern, die nicht mehr ihre Tochter war? Nur mit seiner allmächtigen Hilfe konnte sie die Prüfung bestehen, die er ihr auferlegt hatte.
»Führe uns zurück, unser Vater, zu deiner Lehre, und bringe uns, unser König, deinem Dienst nahe und lass uns in vollkommener Rückkehr zu dir zurückkehren. Gelobt seiest du, Ewiger, der du an der Rückkehr Wohlgefallen hast!«
Ohne Gedanken, den Blick allein zu Gott gerichtet, sollte der Mensch zum Gebet schreiten, und nur wenn es ihm im Herzen wahrhaft nach dem Gebet verlangte, in dringlicher und inständiger Inbrunst, durfte er auf Erfüllung hoffen. Aber wie sollte Gracia auf das hoffen, worum sie Gott bat?
»Schaue auf unser Elend, führe unseren Streit und erlöse uns rasch um deines Namens willen, denn du bist ein starker Erlöser. Gelobt seiest du, Ewiger, der du Israel erlösest!« Sie hatte den Sultan um Bedenkzeit gebeten, doch alles in ihr schrie danach, Süleymans Forderung zu erfüllen. Ein Wort von ihr würde genügen. Noch am selben Tag würde ein Kurier nach Rom aufbrechen, um dem Papst mit Krieg zu drohen, und Reyna und José wären gerettet. Wie sollte sie diese Prüfung bestehen? Noch drei Tage galt die vereinbarte Frist, erst dann war die Gefahr gebannt, dass sie ihrer Schwäche erlag und statt Gottes heiligem Willen dem Bedürfnis ihres Herzens folgte. »Bringe uns unsere Richter wieder wie früher und unsere Ratgeber
wie ehedem, entferne uns von Seufzen und Klage, regiere über uns, Ewiger, allein in Gnade und Erbarmen, und rechtfertige uns im Gericht. Gelobt seiest du, Ewiger, König ...« In ihrer Verzweiflung vermehrte Gracia die
Weitere Kostenlose Bücher