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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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ihrem Vater zu verabschieden. Um sich für das Rabbinatsgericht zu wappnen, wiederholte sie jene drei Sprüche der Schrift, die das Gerüst ihres Glaubens ausmachten: »Ich habe den Herrn beständig vor Augen ... Mach dich bereit, deinem Gott gegenüberzutreten ... Such ihn zu erkennen auf all deinen Wegen ...«
    Ja, sie hatte den Herrn vor Augen und war bereit, ihm gegenüberzutreten, offenen Sinnes, um ihn zu erkennen, in welcher Erscheinung er sich ihr auch zeigen würde. Doch als sie Rabbi Soncinos Wohnung betrat, erschrak sie so sehr, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Der Rabbiner war nicht allein. Aber nicht die Mitglieder des Rabbinatsgerichts, wie sie erwartet und gehofft hatte, waren bei ihm, vor ihr stand vielmehr das Ungeheuer selbst: Francisco Mendes, ihr Ehemann, der Vater ihrer Tochter.
    »Ihr braucht nicht zu erschrecken«, sagte Soncino. »Euer Mann ist gekommen, um Euch von Euren Zweifeln zu befreien.« Er wandte sich an Francisco. »Wollt Ihr selbst sprechen?« Francisco schüttelte den Kopf. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr an meiner Stelle ...«
    Er brachte den Satz nicht zu Ende. Mit Genugtuung stellte Gracia fest, dass er so blass war, als hätte er die Nacht nicht geschlafen, nur seine Augen waren gerötet. Wusste er vielleicht schon, dass dies die letzten Augenblicke ihrer Ehe waren? Weil das Rabbinatsgericht bereits einen Beschluss gefasst hatte? Soncino nickte, und ohne Umschweife begann er seine Rede. Aber nach nur wenigen Worten zerstob Gracias Hoffnung. Kein Zweifel, der Rabbiner hatte sich mit ihrem Mann verschworen - seine Rede war eine einzige Gaukelei, ein empörendes Blendwerk und Verwirrspiel, in dem sich hell und dunkel, Tag und Nacht, Licht und Schatten in ihr Gegenteil verkehrten. War es möglich, dass ein Rabbiner, ein Gelehrter und Prediger der Wahrheit, sich in den Dienst eines solchen Lügengespinstes stellte? Was Soncino erklärte, war so unerhört, so ungeheuerlich, so dreist und frech, dass es Gracia die Sprache verschlug. Ohne mit der Wimper zu zucken, behauptete er, alles, was Francisco Mendes tue, diene ausschließlich und allein dem Zweck, seinen Glaubensbrüdern zu helfen. Wenn er bei Hofe Schweinefleisch esse und mit dem König Geschäfte mache, dann nur, um die Gefahr der Inquisition von den Conversos abzuwenden, und während er dafür all sein Hab und Gut verwende, nutze er zugleich das europaweite Netz seiner Handelsagenten und Niederlassungen, um jüdische Flüchtlinge mit den Schiffen der Firma Mendes außer Landes zu bringen.
    »So wie die Frauen von Badajoz?«, fragte Gracia höhnisch. Der Rabbiner nickte.
    »Ich glaube Euch kein Wort«, sagte sie. »Wenn Francisco Mendes diesen Frauen hilft, dann nur um seines eigenen Vorteils willen.«
    »Ihr meint, weil die Frauen ihm ihr Geld gegeben haben?« »Ihr Geld und fast alles, was sie am Leibe trugen. Sogar Haarspangen hat er von ihnen verlangt.« »Das geschah nur im Interesse der Frauen.« »Dass ich nicht lache!«
    »Alles, was Francisco ihnen nahm, bekommen sie doppelt und dreifach zurück.«
    »Wie bei der wundersamen Brotvermehrung? Ihr redet wie ein katholischer Pfaffe!«
    »Ich rede wie ein jüdischer Kaufmann. Mit dem Geld, das die Flüchtlinge Eurem Mann gegeben haben, spekuliert die Firma Mendes auf Getreide. Bei der Dürre, die seit Monaten herrscht, wird sich der Preis in nur wenigen Wochen verdoppeln.« »Das sieht diesem Menschen ähnlich! Sogar an der Hungersnot will er verdienen!«
    »Ja - aber zugunsten der Frauen und Männer, die seine Hilfe brauchen.«
    Gracia runzelte die Stirn. »Und wie soll das geschehen? Die Leute verlassen doch das Land!«
    »Auf ihre Einzahlung ziehen die Flüchtlinge Wechsel. Den Gewinn bekommen sie bei ihrer Ankunft in Antwerpen von Eurem Schwager Diogo Mendes ausbezahlt, samt Zins und Zinseszins. Geld, mit dem sie in Flandern ein neues Leben anfangen können.« Der Rabbiner verstummte, die grauen Augen unverwandt auf Gracia gerichtet.
    Wie ein böser, unsichtbarer Stachel regte sich Zweifel in ihrer Seele. Sollte es am Ende möglich sein, dass Soncino sie doch nicht betrog? Das Geflecht von Hilfe und Geschäft, das er beschrieb, schien zu kompliziert, um frei erfunden zu sein. Trotzdem dachte Gracia nicht daran, klein beizugeben. Unter Aufbietung ihrer ganzen Willenskraft hielt sie Soncinos Blick stand. Ihr Stolz, ihr Gerechtigkeitssinn, alles in ihr sträubte sich gegen seine Worte. Nein, es konnte nicht sein, dass sie sich so gründlich in ihrem

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