Die Gottessucherin
hätte sie ihren Mann nie geliebt.
Was hatte sie getan, dass der Himmel nicht aufhörte, sie zu strafen?
Die Hände wie eine Christin gefaltet, haderte Gracia mit ihrem Gott. Ja, sie hatte gesündigt. Ja, sie hatte Rabbi Soncino belogen und das Tauchbad in der Mikwa genommen, bevor die vorgeschriebene Zeit verstrichen war. Ja, sie war unter die Chuppa getreten, ohne dazu berechtigt zu sein. Und JA, JA, JA, sie hatte ihrem Mann beigewohnt, obwohl sie eine Nidda war. Aber war das wirklich ein solches Verbrechen? Ein Verbrechen, das durch nichts wiedergutgemacht werden könnte? »Wer bist du, Gott«, flüsterte sie, »dass du deinen Kindern solche Gesetze auferlegst?«
Ihre ganze Verzweiflung entlud sich in ihrer Klage, doch der König und Herr blieb stumm. Statt Gracia Antwort zu geben, hüllte er sich in Schweigen, als weide er sich an ihrer Pein, in kalter Fühllosigkeit, wie ein böses Kind, das einen Regenwurm quält und zerschneidet, nur weil es die Macht dazu hat. Verdiente die Missachtung von ein paar Tropfen Blut solche Rache? Sie hatte doch versucht, ihre Schuld wiedergutzumachen. Sie hatte das größte Opfer gebracht, zu dem eine Frau überhaupt fähig war, ein Opfer, das mehr wert war als ihr Leben. Sie hatte sich einem Fremden hingegeben, sein Fleisch geküsst und sich mit ihm vereint, um das Leben ihres eigenen Mannes zu retten. Aber Gott hatte ihr Opfer nicht angenommen, er hatte Franciscos Tod gefordert, ihn qualvoll sterben lassen, mit ihrer eigenen Hände Hilfe, wie um sie zu verhöhnen. Und jetzt sollte sie, um diesem Gott die Treue zu halten, ihre Heimat und alles, was ihr noch lieb und wert war, aufgeben und in eine ungewisse Fremde ziehen? Ein Priester trat vor die Gemeinde, um die Botschaft des Evangeliums zu verkünden.
»Und als der Pfingsttag gekommen war, waren die Jünger alle an einem Ort versammelt. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.«
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Noch während der Priester die Bibel küsste, ertönte das Gloria. Wie ein Chor von tausend Engeln schwoll der Lobgesang an, und die Orgel durchtoste die Kathedrale wie das Brausen von einem gewaltigen Wind, dass die Mauern davon erbebten. »Ehre sei Gott in der Höhe!«
Ein Schauer lief Gracia über den Rücken. Während der Gott des Volkes Israel sich von ihr abgewandt hatte, um sich in seine stumme, unerreichbare Ferne zurückzuziehen, spürte sie plötzlich die Gegenwart des Christengottes mit all ihren Sinnen, hier in diesem Gotteshaus.
»Wir loben dich! Wir preisen dich! Wir beten dich an!« Es war, als gingen ihr plötzlich Augen und Ohren auf. Alles, was sie sah, alles, was sie hörte, war Schönheit gewordenes Gotteslob. Warum hatte sie nie zuvor die Majestät dieses Bauwerks empfunden? Wie eine Symphonie aus Stein erhoben sich die Säulen und Mauern, um die Herrlichkeit des Allmächtigen zu feiern. Warum hatte sie nie zuvor die Kraft dieses Chorals gespürt? Wie eine Meereswoge erfasste sie das Brausen, als wollte es sie zum Himmel emportragen. Warum hatte sie nie die Pracht der Altäre gesehen? Wie ein Rausch ergoss sich die Flut von Bildern über sie, und während ihre Augen schier darin ertranken, wurde eine Frage übermächtig, die ihr Herz mit Angst und Hoffnung zugleich erfüllte: War dieser Gott der Dreifaltigkeit, in dessen Namen und zu dessen Ehre Menschen solche Schönheit und Größe erschaffen hatten, nicht der wahre und bessere Gott? Besser als ihr Gott, der Gott der Juden, Haschern, der sie so hart geprüft und trotzdem so hart bestraft hatte?
Während Orgel und Chor verstummten, stieg der Bischof die Stufen zur Kanzel empor, um die Pfingstpredigt zu halten. »Und die Apostel zogen aus, um die Botschaft den Juden zu verkünden. Diese aber fragten: Was sollen wir tun? Da sprach Petrus zu ihnen: Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung, und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, herbeirufen wird.« Bei diesen Worten fiel der Blick des Bischofs auf Gracia, und es war, als riefe Gott selbst ihr seine Botschaft
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