Die Gottessucherin
bedeuten.«
»Die Gloria braucht zuerst einen neuen Zielhafen, sonst lässt der Hafenkommandant in Lissabon sie nicht von den Leinen. Auch muss sie wie geplant die Seidenballen aufnehmen. Ohne Fracht können die Flüchtlinge nicht an Bord. Das wäre viel zu gefährlich. Außerdem brauchen wir das Geld.«
Er ging zu dem mächtigen Globus, der in der Mitte des Kontors auf einem Holzgestell ruhte, und während er an der großen, lederbespannten Kugel drehte, auf der alle Niederlassungen der Firma Mendes mit einem Davidstern gekennzeichnet waren, fragte er: »Wohin also mit den tausend Ballen Seide? Habt Ihr eine Idee?«
»Als Ersatz für London? Vielleicht.« Sie machte eine Pause und legte einen Finger an die Spitze ihrer Nase, als würde sie nachdenken. »Wie wäre es«, sagte sie schließlich, »wenn die Gloria von Lissabon nach Madeira auslaufen würde?«
»Nach Madeira? Aber das ist am anderen Ende der Welt!« Diogo zeigte auf den winzigen braunen Fleck, der sich wie ein Krümel in der weiten blauen Wasserwüste des Ozeans verlor. »Da, seht selbst!«
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte Gracia, »aber genau das wäre unser Vorteil. Wenn die Gloria mit der Chinaseide nach Madeira ausläuft, schöpft in Lissabon niemand Verdacht. Kein Jude wird je auf die Kanaren fliehen. Unsere Leute könnten also beim Beladen ohne jede Gefahr an Bord gebracht werden.« »Eine gute Idee«, sagte Diogo. »Aber - wo bleibt das Geschäft?« Auch darauf hatte sie eine Antwort: »Wir nehmen in Madeira Süßwein an Bord, der ist in Paris sehr begehrt. Damit können wir mehr Gewinn machen als mit schottischem Aquavit. Und die Seide könnten wir von Madeira aus nach Italien verschicken.« »Und wer wickelt das Geschäft für uns ab? Wir haben keine Niederlassung auf den Kanaren.«
»Mein Vater hat früher mit Madeirawein gehandelt, ich habe bereits einen Brief an seinen alten Agenten in Funchal vorbereitet.« Sie rollte das Pergament zusammen und reichte es ihm. »Für den Kapitän der Gloria.« »Oh, Ihr habt also schon einen fertigen Plan?« Diogo zögerte. Das Geschäft durfte auf keinen Fall platzen, er hatte hinter Gracias Rücken jemanden daran beteiligt, dessen Hilfe sie unbedingt brauchten ... Andererseits passte es ihm gar nicht, dass seine Schwägerin in einer so wichtigen Frage für die Lösung sorgte, schließlich war er der Chef ... Während er überlegte, fuhr er mit dem Finger auf dem Globus die Route nach, die das Schiff zurücklegen würde. Bei Gott, der Plan war wirklich verrückt! Aber er könnte funktionieren ... Warum war er nicht selbst darauf gekommen?
Er drehte so heftig an dem Globus, dass die Weltkugel einmal um die eigene Achse kreiste, dann wandte er sich zu seiner Schwägerin um. »Habe ich es nicht gleich gesagt?«, fragte er sie mit einem Grinsen.
»Was habt Ihr gesagt?«, fragte sie zurück. »Dass man den Herrn auch für das Böse preisen muss?« Sie hob die Augenbraue und sah ihn an. »Dann seid Ihr also einverstanden?«
»Gebt schon her«, sagte er und nahm den Brief. »Ich werde dem Kapitän der Gloria Anweisung geben, dass er von Lissabon aus mit Kurs auf Madeira ausläuft.«
Als ihre Hände sich berührten, schüttelte sie unwillig den Kopf, erwiderte aber stolz seinen Blick. Wollte sie ihn beleidigen? Nein, eine Schönheit wie ihre Schwester war sie nicht, er war nicht im Geringsten an ihr interessiert. Aber klug war sie, verdammt klug sogar, und für die Firma konnte Diogo sich keine bessere Partnerin wünschen. Sie hatte sogar Rabbi Soncino dazu gebracht, ihr aus Venedig eine Responsa zu schicken, ein talmudisches Rechtsgutachten, in dem er sie kraft seines Amtes nicht nur von der Unberührbarkeit als Frau befreite, sondern ihr zugleich erlaubte, sich gemeinsam mit Diogo und anderen Männern in geschlossenen Räumen aufzuhalten, damit sie als Mitinhaberin des Handelshauses unbeeinträchtigt von den Vorschriften des Glaubens ihre Geschäfte führen konnte: zum Wohl der Firma Mendes und zum Wohl des jüdischen Volkes. »Gibt es noch etwas?«, fragte sie. »Ja, Ihr habt mir noch keine Antwort gegeben.« Gracia wich seinem Blick aus. »Ach, Ihr wisst doch, wie ich darüber denke.«
Damit wandte sie sich ab und verließ den Raum. Diogo schaute ihr nach, wie sie mit ihrer hohen Spitzenhaube durch die Tür verschwand. Immerhin hatte sie nicht nein gesagt. Und sollte sie sich eines Tages zu einem Ja durchringen, um das Vermögen der Firma Mendes unter dem Dach der Ehe zu vereinen - wer
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