Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
Pfaffen, sondern nüchtern rechnende Kaufleute an, wirtschaftliche Vernunft und Weltoffenheit herrschten über Wunderglauben und Eiferertum, und jedermann wusste zu schätzen, welchen Beitrag die neuen Mitbürger zum Wohl des Gemeinwesens leisteten. Obwohl die Juden ihre Geschäfte mit solchem Erfolg führten, dass kaum einer je Bankrott anmelden musste, zeichneten sie sich durch außergewöhnliche Redlichkeit aus. Sie waren ehrlich und zuverlässig, betrogen niemanden, verstießen nicht gegen Gesetze, zeigten sich der Regierung treu ergeben und schlössen sich sogar der Bürgerwehr an, um bei Feuersbrünsten oder Überflutungen die Stadt vor Schaden zu schützen. Die Wohn- und Handelshäuser der Marranen - in der Bevölkerung »die spanischen Türme« genannt - erhoben sich in gleicher Größe und mit gleichem Stolz neben den Häusern ihrer flämischen Nachbarn, und wenn die Mittagszeit nahte, mischte sich in den Geruch von gedünstetem Kohl und fetten Würsten, der sich aus den Küchen der Einheimischen in den Gassen verbreitete, der feine, fremde Duft von gebratenem Knoblauch und Olivenöl, der aus den Wohnungen der Juden ins Freie strömte, ohne dass dies jemanden störte. Wie alle anderen Bewohner der Stadt genossen sie das Bürgerrecht, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, um ihre Geschäfte oder um ihre Familienstreitigkeiten, und wenn sie des Sonntags den Besuch der heiligen Messe versäumten, krähte kein Hahn danach. Mit einem Wort: Die Gefahr von Verfolgung und Vertreibung, denen die Marranen in ihrer iberischen Heimat ausgesetzt waren, schien in dieser ebenso freiheitsliebenden wie wohlhabenden Stadt so unwirklich und unwahrscheinlich wie die Bedrohung ihrer Kauffahrtsschiffe durch den »Langen Wapper«, jenen Fabelriesen, von dem es in der Sage hieß, er hause in den Nebelschwaden der Scheide, um allen Schiffern die Hand abzuhacken, die ihren Zoll schuldig blieben, der tatsächlich aber nur Müttern und Ammen als Kinderschreck diente.
     

2
     
    Diogo Mendes schaute durch das Fenster seines Kontors hinunter auf den Hafen. Von den elf Schiffen, die am Kai lagen, gehörten sieben der Firma Mendes, darunter, an der Hauptpier, die Gloria, ein gewaltiger Sechsmastschoner, neben dem die übrigen Segler wie Nussschalen wirkten. Dutzende von Schauerleuten waren schon seit einer Woche damit beschäftigt, den riesigen Bauch des Schiffes mit Getreidesäcken zu füllen. Es sollte heute mit der Flut mit Kurs auf Lissabon auslaufen. Normalerweise hätte der Anblick Diogo mit Stolz erfüllt. Doch nicht an diesem trüben Morgen. Abrupt wandte er sich vom Fenster ab und blickte seine Schwägerin an, die im Schein der Öllampe einen Brief schrieb.
    »Die ganze Stadt wartet auf eine Entscheidung«, sagte er. »Sogar an der Börse wird schon über die Verhältnisse im Hause Mendes spekuliert.«
    »Was kümmern uns die Leute?«, fragte Gracia, ohne von ihrem Pult aufzuschauen. »Alles ist gut so, wie es ist. Wir brauchen nichts zu ändern.«
    »Gar nichts ist gut«, erwiderte Diogo. »Ich meine, wir sollten Franciscos Willen respektieren. Er hat die eine Hälfte seines Vermögens Euch hinterlassen, die andere mir. Was glaubt Ihr, weshalb er das getan hat?«
    »Weil es so gerecht ist. Ihr seid sein Bruder, ich bin seine Frau.« »Nein, Francisco wollte, dass das Vermögen der Firma zusammenbleibt.«
    Er wartete, dass sie ihm eine Antwort gab, aber sie dachte gar nicht daran. Als wäre er überhaupt nicht da, ließ sie ihre Gänsefeder unbeirrt über das Pergament rascheln und unterbrach ihre Arbeit nur, um hin und wieder ihre fast turmhohe Haube aus Brüsseler Spitze zurechtzurücken, durch die ihr Haar rötlich schimmerte.
    Diogo stieß einen Seufzer aus. Warum hatte Gott ihm diese Frau geschickt, statt ihn zum alleinigen Erben seines Bruders zu machen? Vor über zwei Jahren war Gracia in den Niederlanden angekommen, und seitdem lebten sie zusammen unter einem Dach, in Diogos großem, fünf Stockwerke hohem Haus am Marktplatz. Er hatte seine Schwägerin mitsamt ihrem Anhang aufgenommen, wie es sich für eine jüdische Familie gehört. Doch statt sich um den Haushalt zu kümmern, wie jede andere Frau an ihrer Stelle, hatte Gracia darauf bestanden, mit ihm in der Firma zu arbeiten. Zuerst hatte Diogo sie ausgelacht. Er war der Pfefferkönig von Antwerpen; an der Börse verstummten die Gespräche, wenn er in seinem weißen Zobel erschien, und im Judenhaus am Kipdorp galt sein Wort mehr als das des Rabbiners. Wozu

Weitere Kostenlose Bücher