Die Gottessucherin
hatte, dauerte es nicht lange, da spürte Gracia ihn wieder bei sich, in der dunklen Geborgenheit ihrer Kammer, sah sein Gesicht und hörte seine Stimme, so deutlich, als wäre er wirklich da. Während an den Wänden die Schatten von der Laterne des Nachtwächters durch das Fenster huschten, erzählte sie ihm von den Ereignissen des vergangenen Tages, von ihrer Arbeit im Kontor, von ihrem Bemühen, zusammen mit Diogo sein Werk fortzusetzen. Was hätte er wohl zu ihrer Idee gesagt, von Lissabon aus Madeira anzulaufen? »Das hast du gut gemacht ... Ich bin stolz auf dich ...« Zufrieden schloss Gracia die Augen. Was für ein Gesicht Diogo gezogen hatte! Offenbar hatte es ihn große Überwindung gekostet, ihrem Plan zuzustimmen. Diogo war immer noch so, wie sie ihn aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte. Aber was hatte sie damals nur an ihm gemocht? Zwar hielt er den Sabbat ein und verrichtete alle Gebete, und das Judenhaus am Kipdorp hatte er auf eigene Kosten gebaut und darin sogar eine Wohltätigkeitsbörse eingerichtet, zur Versorgung aller Marranen, die auf ihrer Flucht von einem Ende der Welt zum anderen in Antwerpen Station machten. Trotzdem war er das Gegenteil seines Bruders. Er liebte das Leben, den Luxus und die Künste, vor allem aber liebte er sich selbst. Allein schon sein Wahlspruch: »Man muss den Herrn auch für das Böse preisen ...« Meinte er damit wirklich das Lob Gottes? Oder pries er das Böse nur, weil er das Abenteuer liebte, weil die Gefahr jeden Sieg umso strahlender erscheinen ließ? Er war so eitel, dass er manchmal sogar im Kontor seinen weißen Zobel, einen äußerst wertvollen Pelz, anbehielt. »Ihr habt mir noch keine Antwort gegeben ...« Vom Turm der Liebfrauenkathedrale schlug es zur elften Stunde. Gracia spürte, wie die Schwere des Tages von ihr abfiel und sie in den Schlaf entließ. Wie die grauen Nebel der Scheide hüllte die Müdigkeit sie ein, floss durch ihre Adern, in sanften, ruhig flutenden Wogen, breitete sich in ihrem ganzen Leib aus. Sie hatte Diogo gesagt, er wisse doch, wie sie darüber denke. Aber wusste sie es selbst? Während ihre Arme, ihre Beine schwerer und schwerer wurden, sah sie Franciscos Gesicht vor sich. Seine Augen waren in die ihren versunken wie in die Betrachtung eines Kunstwerks.
»Siehe, meine Freundin, du bist schön ... Siehe, schön bist du ...« Selig erwiderte sie seinen Kuss, und ihre Gedanken lösten sich in Bilder auf, um allmählich in Schlaf und Traum hinüberzugleiten. Immer schwerer, immer wärmer wurde ihr Leib, und während sie tiefer und tiefer hinabsank, bis auf den Grund ihrer Seele, war ihr zugleich, als würde sie schweben. Zärtlich schmiegte sie ihr Gesicht an das Kissen, spürte das Leinen auf ihrer Haut, Atem, der sie liebkoste, den Atem eines Mannes.
»Du weißt, worum ich dich bitte ... Diogo soll dir helfen ... Du hast ihn immer geliebt ...«
Ein süßlich-bitterer Geruch hing in der Luft, wie die Ausdünstungen eines Tieres, das sich irgendwo verkrochen hatte. Sie hielt das Kissen in ihrer Hand. Ohne zu denken, hatte sie es genommen und auf sein Gesicht gedrückt.
War das noch ein Gedanke? Oder war es schon ein Traum? Drei Tauben schwangen sich hinauf in die Lüfte, eine weiße, eine grüne und eine schwarze. Gracia versuchte, ihre Augen zu öffnen, doch sie konnte es nicht, ihre Lider waren so schwer wie Blei. Und gerade als sie begriff, dass sie selbst die grüne Taube war, spannte ein Schütze seinen Bogen, und die weiße Taube fiel vom Himmel.
Ja, Francisco war tot, und sie lebte mit seinem Bruder unter einem Dach. Und sie durfte ihn niemals lieben.
4
Brianda wusste nicht, ob es Gott wirklich gab. Aber jeden Tag dankte sie ihm dafür, dass sie auf der Welt sein durfte. War das Leben nicht ein wunderbares Geschenk? Ein einziger großer Gabentisch?
Der Marktplatz von Antwerpen war zur Kirchweih mit bunten Flaggen geschmückt, die Sonne schien von einem weiß-blauen Himmel auf die Giebelhäuser herab, und während vor dem Rathaus zwei Trommler lärmten und ein Narr mit Schellenkappe seine Bocksprünge dazu vollführte, schlenderte Brianda zwischen den Buden umher, um sich die Auslagen anzuschauen. Es gab nichts auf der Welt, was es hier nicht gab. Gold- und Silberschmiede hatten ihre Waren ausgestellt, Glasbläser und Buchbinder, Teppichweber und Schuhmacher, Diamantschneider und Holzschnitzer. Obwohl es Brianda an Geld nicht fehlte, feilschte sie um jeden Preis, nur aus Freude am Handeln. Im Gegensatz zu
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