Die Gottessucherin
weiß, vielleicht könnte er ja dann noch nebenher bei der hübschen Brianda landen.
3
»Gibt es das Gelobte Land wirklich, Mutter?«, fragte Reyna. »Du meinst das Land, wo die Zehn Stämme lebten?«, erwiderte Gracia.
Reyna lag schon zur Nacht bereit in ihrem Bett, unter einer dicken warmen Decke verpackt, aber sie wollte nicht schlafen, bevor sie eine Antwort bekam. Gracia zögerte. Was sollte sie ihrer Tochter sagen? Niemand, den sie kannte, hatte das Land der Zehn Stämme je mit eigenen Augen gesehen, und auch sie selbst wusste davon nur, was ihre Mutter ihr als Kind berichtet hatte. »Ja, mein Liebling«, sagte sie schließlich, »dieses Land gibt es wirklich. Obwohl schon seit sehr langer Zeit kein Mensch mehr da gewesen ist, ist es die Heimat von allen Juden auf der Welt.« »Und wo ist dieses Land?«
»Es liegt ganz weit weg von hier, mitten in einer Wüste, am Ufer eines mächtigen Flusses.« »Ist es da warm?«
»Ja, viel wärmer als hier. Da scheint fast immer die Sonne.« Während das Feuer im Kamin prasselnd gegen die ewige feuchte Kälte ankämpfte, setzte Gracia sich zu ihrer Tochter aufs Bett, und obwohl Reyna die Geschichte schon viele Male gehört hatte, lauschte sie mit andächtigem Staunen der Prophezeiung, die einst ein Orientale auf der Praca do Rossio verkündet hatte, vor vielen Jahren in Lissabon, bei der Zwangstaufe der zwanzigtausend, unter denen auch ihre Großmutter gewesen war - lauschte der Geschichte von dem wundersamen Fluss Sabbaton, dessen Fluten nur an Werktagen strömten, am siebten Tage aber stillstanden, von den Mosessöhnen, die am Ufer ihre Gebete verrichteten, um den Sabbat zu heiligen, und von dem Garten Eden, der sich am Ende einer langen Reise vor allen Juden auftun würde, die dem Flug der weißen Tauben folgten. »Du hast vergessen zu sagen, wie es duftet, Mutter!« »Gut, dass du mich daran erinnerst. Ja, in dem Garten duftet es so herrlich wie im Paradies. Nach Dattelpalmen und Orangenbäumen und Pinienhainen.«
Reyna atmete ganz tief ein, als könnte sie alles riechen, was Gracia beschrieb - die kleine Nase mit den Sommersprossen kräuselte sich, und ihre hellblauen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, leuchteten wie zwei Sterne. Neun Jahre war sie nun alt, und Gracia war glücklich, dass sie die Geschichte vom Gelobten Land so gerne hörte, die Geschichte ihrer Väter. Es war ja noch nicht lange her, da hatte Reyna beim Beten immer das Kreuzzeichen geschlagen, wie sie es von den Edomitern gelernt hatte, und jedes Mal hatte der Anblick Gracia einen Stich versetzt. Reyna war doch ihr Glaubenspfand - durch ihre Geburt hatte Gott sie wieder in das Buch des Lebens eingeschrieben, nach ihrem Frevel in der Hochzeitsnacht, und in der Stunde ihrer größten Verirrung, in der Kathedrale von Lissabon, hatte ihre Tochter sie vor dem Abfall von Haschern bewahrt. Dafür schuldete sie Gott ihre Seele.
»Glaubst du«, fragte Reyna, »dass wir irgendwann das Gelobte Land sehen? Du und ich?«
»Ja«, sagte Gracia, »das glaube ich, ganz fest sogar. Wir müssen nur aufpassen, dass wir weiße Tauben bleiben und uns von den schwarzen und den grünen Tauben fernhalten.« Sie strich ihrer Tochter über die Wange und gab ihr einen Gutenachtkuss. »Jetzt sagen wir noch einmal das Schma und die Segenssprüche, und dann wird geschlafen.«
»Gelobt seiest du, Gott, der Abend werden lässt«, murmelte Reyna und gähnte. »Gelobt seiest du, Ewiger, Erlöser Israels. Führe uns zur Ruhe. Makellos sei mein Lager vor dir, und erleuchte meine Augen, damit ich nicht in den Tod schlafe.« Sie hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, da fielen ihr die Augen auch schon zu, und gleich darauf war sie eingeschlafen. Leise, um sie nicht zu wecken, nahm Gracia den Leuchter vom Kasten, und während draußen auf dem Marktplatz ein Nachtwächter vorüberzog, ging sie auf Zehenspitzen in ihre Kammer.
Dort las sie noch eine Seite in der Thora, die sie sorgsam in ihrem Wäschekasten versteckt hielt, bevor auch sie sich entkleidete, die Kerzen ausblies und sich ins Bett legte.
Wohlig kuschelte sie sich unter die Decke. Dies war der schönste Teil des Tages, die Zeit der Seelenrechenschaft, da sie in ihren Gedanken Francisco zu sich rief, ihren Mann, um zusammen mit ihm den Tag zu beschließen. Im Haus war alles still, nur von draußen ertönte hin und wieder der einsame Ruf des Nachtwächters, und obwohl schon so viele Jahre vergangen waren, seit Francisco sie verlassen
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