Die Gottessucherin
Diogo das Gesicht seiner Schwägerin sah, verstummte er. Keine Frage, Aragon hatte sich nicht an seine Anweisung gehalten, und Diogo wusste sogar, warum. Er war mit dem Kommissar einig gewesen, dass die Flüchtlinge drei Wochen unbehelligt im Judenhaus bleiben könnten. Dafür sollte Aragon hundert Dukaten bekommen. Doch gestern hatte der Spanier noch mal hundert Dukaten zusätzlich dafür verlangt, dass er die Soldaten am Kipdorp abziehen würde, und um weiteren Erpressungen einen Riegel vorzuschieben, hatte Diogo die Forderung abgelehnt. Das war ein Fehler gewesen. Aber lieber würde er sich die Hand abhacken, als diese Schmach vor Gracia einzugestehen. Statt ihr zu antworten, wandte er sich an seine Frau. »Wo sind die Leute jetzt?«
»Samuel hat sie in dem alten Kornspeicher am Laureiskaai untergebracht.«
»Bei der Eiseskälte?«, rief Gracia. »Da holen sie sich den Tod! Der Speicher hat weder Fenster noch Türen, und das Dach ist eingefallen. Außerdem ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie dort entdeckt werden. Der Hafenkommandant schnüffelt überall herum.« Sie blickte Diogo vorwurfsvoll an. »Wegen Eures Leichtsinns sind die Menschen jetzt in Gefahr!« Diogo schaffte es nicht, ihrem Blick standzuhalten. Nur ein halber Dukaten pro Flüchtling mehr für Aragon, und der Schlamassel wäre nie passiert. Was konnte er tun? Es gab nur eine Möglichkeit, um seine Schmach wiedergutzumachen. »Samuel soll warten, bis es dunkel ist«, befahl er seiner Frau, »dann holen wir die Leute, die keine Bleibe haben, hierher.« »Was meinst du mit - hierher? Meinst du etwa - in unser Haus ?« »Ja natürlich! Auf dem Dachboden ist genug Platz. Wir müssen vorher nur die Baumwollballen fortschaffen.« Brianda schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall! Das ist viel zu gefährlich!«
»Aber wir können die Menschen doch nicht ihrem Schicksal überlassen«, erwiderte Gracia.
»Halt du dich da raus! Ich spreche mit meinem Mann! Das ist allein unsere Angelegenheit.«
»Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen. Sie haben kein Zuhause. Manche haben nicht mal Geld.«
»Das haben sie alles vorher gewusst. Warum soll das jetzt unsere Sorge sein? Das sind doch wildfremde Menschen!« »Nein, das sind sie nicht. Sie sind Juden, genauso wie wir. Nur darum mussten sie fliehen.
Mussten
- hörst du? Zu Hause hätte man sie umgebracht.«
»Und wenn du es zehnmal wiederholst - dadurch wird es nicht wahrer. Es gibt Tausende von Juden, die in Portugal leben, ohne dass man ihnen ein Haar krümmt. Weil sie vernünftig sind und sich anpassen. Wie unser Vater.«
»Und die anderen? Die sich zu ihrem Glauben bekennen? Sie haben doch gar keine andere Wahl, als zu fliehen!« »Ach was! Die meisten kommen nur, weil sie hoffen, dass es ihnen hier bessergeht und sie nicht hungern müssen wie in Portugal. Kannst du dich an Rebecca Gonzales erinnern, die dicke Frau des Geldverleihers aus Coimbra? Sie hat dir die Hände geküsst und mit dir das Schma gebetet und Gott gepriesen für ihre Rettung. Aber letzte Woche habe ich sie auf dem Markt gesehen, wie sie Schweinefleisch gekauft hat, einen großen, fetten Braten, für ihre ganze Familie. Und für solche Menschen sollen wir riskieren, dass man uns ...«
»Du weißt ja nicht, was du sagst. Stell dir vor, unser Vater wäre unter den Flüchtlingen. Würdest du ihn auch seinem Schicksal überlassen?«
»Unser Vater ist in Lissabon geblieben. Ich wollte, das wären wir auch ...«
»Schämst du dich nicht? Jeder Jude hat die Pflicht, anderen Juden zu helfen!«
»Du hast leicht reden, es ist ja nicht dein Haus, in dem die Leute sich verstecken sollen. Was ist, wenn man sie entdeckt? Ich habe eine Tochter! Meine einzige Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass ihr nichts passiert!« Brianda fuhr zu ihrem Mann herum. »Diogo - was stehst du da und sagst nichts?«
Die Verzweiflung, die aus ihren Augen sprach, hatte noch kein Maler gemalt. Aber war das ein Wunder? Diogo wusste, Briandas Angst war mehr als begründet - wenn die Dominikaner portugiesische Juden unter ihrem Dach entdeckten, könnte sie das Kopf und Kragen kosten. Doch sollte Gracia deshalb triumphieren? »Man muss den Herrn auch für das Böse preisen«, erklärte er. »Ich will, dass alle Flüchtlinge, die keine Angehörigen in Antwerpen haben, zu uns kommen. Bis jeder eine feste Bleibe gefunden hat oder weiterzieht.«
»So, dann hältst du also zu deiner Schwägerin statt zu deiner Frau?«
»Ich entscheide so, wie ich es für richtig halte.«
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