Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
gerechnet haben. Als Dornfeder sie erreichte, sah
der Krieger seine Gemahlin an, und beide traten einen
Schritt zurück. Sternenströmer und Abendlied folgten
ihrem Beispiel.
Der Vogeljüngling stand nun allein und unsicher inmitten des goldenen Marmorrunds. Dornfeder sah ihm
fest in die Augen, fiel dann vor ihm auf die Knie, senkte
das Haupt und hielt ihm mit ausgestreckten Händen das
schwere Geschmeide hin.
»Ihr seid der Sohn des Rabenhorst«, sprach der Geschwaderführer feierlich, »und damit sein Erbe, wie
schon der Sternenmann bestätigte. Deswegen gebührt
dieses Symbol Euch.«
»Ich kann es nicht annehmen«, entgegnete Freierfall
stammelnd.
Axis runzelte die Stirn, aber sein Vater fand als erster
seine Sprache wieder: »Ihr werdet vor aller Welt in der
Versammlungshalle auf dem Tempelberg zum Krallenfürsten ausgerufen, junger Freund. Wenn Axis … sobald
der Sternenmann aus dem Norden zurückgekehrt ist, wird
er Euch höchstpersönlich in Euer Amt einsetzen. Natürlich dürft Ihr den Schmuck trotzdem jetzt schon tragen –
und Euch als Thronanwärter fühlen.« Sternenströmer sah
ihn erwartungsvoll an. »Nun nehmt schon.«
Aber Freierfall zögerte immer noch, während der
kniende Dornfeder weiterhin die Hände ausgestreckt hielt.
»Ich kann nicht«, wiederholte der Vogeljüngling,
nahm dann unvermutet den Reif und reichte ihn Aschure.
»Was soll das?« fragte sie verwirrt. »Ihr könnt doch
nicht …«
»Wolfstern wurde von seinem Bruder ermordet, der
dann seinerseits als dessen Erbe den Thron bestieg. Als
Tochter Wolfsterns seid Ihr aber seine rechtmäßige Erbin, Aschure, und deshalb sollt Ihr das Amt des Krallenfürsten bekleiden.«
Die Jägerin setzte ihren Sohn auf den Boden, trat einen Schritt vor und nahm den Schmuck entgegen. »Verdammter Kerl!« schimpfte sie, »müßt Ihr Euch immerzu
vor Euren Pflichten drücken? Ich wurde nicht für den
Thron des Krallenfürsten geboren. Außerdem erwarten
mich zahllose andere Aufgaben, die mir keine Zeit lassen, Regentin der Ikarier zu sein. Außerdem wurde ich
erst nach Wolfsterns Ermordung geboren!«
Aschure hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen. »Und was wollt Ihr jetzt tun? Vielleicht Axis das
Amt antragen? Oder Sternenströmer? Gar Abendlied? Sie
alle stehen dem Thron durch Herkunft und Geburt viel
näher als ich. Also, nehmt das Zeichen der Fürstenwürde
wieder zurück!«
Diesmal griff Freierfall sofort nach dem Reif und lächelte betreten. »Ich mußte sie Euch anbieten, Aschure.
Eurem Vater geschah ein großes Unrecht, auch wenn er
selbst viel Unrecht tat. Aber Ihr seid nun einmal seine
Tochter, und deswegen mußte ich Euch den Thron zumindest anbieten.«
»Da hat der Jüngling gar nicht einmal unrecht«, bemerkte Sternenströmer. »Das uralte Gesetz der Ikarier
stellt eindeutig fest, daß …«
»Schluß jetzt mit Traditionen und alten Bräuchen!«
fuhr der Krieger dazwischen, ohne es aber wirklich böse
zu meinen. Er legte eine Hand auf Aschures Arm und
erklärte: »Lieber Vetter, als ich einst an jenem strahlenden Tag am Lebenssee Titel und Lehen des neuen Tencendor verteilte, übertrug ich Euch wenig mehr, als das,
was Euch ohnehin zustand, nämlich das Recht auf den
ikarischen Thron. Heute aber wollen Aschure und ich
Euch mehr geben. Freierfall, bestätigter Thronfolger und
Krallenfürst der Ikarier, Euch und allen Euren Erben soll
die Herrschaft über die Eisdachalpen und die Grenzberge
zufallen, dazu alle östlichen Ländereien Tencendors vom
Süd- und Ostufer des Nordra bis zu den südlichen Ausläufern des Bardenmeers und hinab zur Weitwallbucht –
abgesehen natürlich von den Gebieten, die Isgriff von
Nor und Greville von Tarantaise unterstehen. Ihr dürft in
diesen Gebieten den Zehnten einziehen und besitzt die
Zoll- und Marktrechte nebst den sonstigen Regalien.
Wiederum mit Ausnahme derer, die ich bereits Isgriff
und Greville und der freien Stadt Arken zugestanden
habe. Mit diesem Lehen wird Euch eine sehr große Verantwortung übertragen, Freierfall, denn Euch unterstehen
dann nicht nur die Ikarier, sondern auch Achariten und
Awaren, falls sie jemals Awarinheim verlassen sollten.
Dafür seid Ihr niemandem außer mir, Aschure oder unseren Erben gegenüber rechenschaftspflichtig.«
Der Jüngling starrte die Jägerin an: »Aber Ihr seid
doch die Herrin des Ostens …«
Aschure lachte. »Eigentlich nur die Hüterin, und das
ist nur ein Titel, wenn ich lieber mit meinem Gemahl
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