Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
aufgewacht und hatten festgestellt, daß der Schneefall wohl
irgendwann in der Nacht aufgehört haben mußte. Selbst
der Wind ließ nach. Axis wußte nicht so recht, ob Gorgrael noch irgendeine Gewalt über das Wetter besaß.
Doch falls es so war, hatte Gorgrael vielleicht beschlossen, daß sie ihren letzten gemeinsamen Tag unter den
Lebenden bei Tageslicht verbrachten.
Damit derjenige, der im Kampf unterlag, sterbend erkennen konnte, was er verlor.
Der Krieger wandte den Blick von den beiden Männern ab und schaute in die Tundra hinaus. Eine endlose
weiße Fläche breitete sich vor ihnen aus, die schmerzhaft
in den Augen funkelte, als die ersten Sonnenstrahlen auf
die gefrorenen Kristalle fielen.
Wo mochte Faraday sich jetzt wohl befinden? Ob
Gorgrael sie tatsächlich verschleppt hatte? Oder war sie
vernünftig genug gewesen, im Heiligen Hain zu bleiben?
Aber Axis wußte im Grunde seines Herzens, daß der
Zerstörer die Edle in seine Gewalt gebracht haben mußte.
Er spürte bereits die finstere Macht seines Bruders, die
sich wie ein schwerlastender Schatten auf der Eisödnis
auszubreiten schien.
Und er fühlte ebenso Gorgraels Freude. Auch dies hatte sich über Nacht verändert. Gestern hatte man die Bösartigkeit des Zerstörers ebenfalls spüren können, aber da
wirkte sein Feind noch eher vorsichtig. Jetzt aber triumphierte er wild. Das Böse drückte sich nicht mehr nur in
Ecken herum, es tanzte geradezu über die Ödnis.
Axis schüttelte sich. Er bückte sich, um das Regenbogenzepter aufzunehmen. Noch wußte er nicht so recht,
wie er es nutzen konnte, aber er besaß bereits eine gewisse Vorstellung … und die verdankte er Aschure. Der
Krieger betrachtete die Insignie eine Weile, blickte auf
ihren Kopf, den Faraday mit einem Streifen aus ihrem
Gewand umwickelt hatte, und schob sich das Zepter dann
in den Waffengürtel.
Abwesend ließ Axis seine Finger über die Scheide
seines Schwertes wandern. Heute würde die Klinge, so
hoffte er, woanders heineingestoßen werden.
Der Krieger hob den Kopf und lächelte seine beiden
Gefährten an. Ein unwiderstehliches Lächeln voller
Hoffnung und Mut, und die beiden konnten nicht anders,
als es ihm gleichzutun.
»Kommt nun, meine Freunde«, forderte Axis sie auf.
»Es wird Zeit. Brode, wohin müssen wir uns wenden?«
Der Aware nickte in Richtung Nordosten und stöhnte
vor Schmerzen auf, als der Krieger ihn fest am Arm packte.
Axis betrachtete ihn mit großer Sorge. Aber Brode
sammelte seine ganzen Kräfte, und nach einigen Metern
konnte er allein laufen.
Sie waren drei Stunden unterwegs. Ihre Augen brannten vom Schneeflimmern, und nach einer Weile mußten
sie sich die Kapuzen tief ins Gesicht ziehen, um sich davor zu schützen.
Gegen Mittag blieb der Krieger stehen und blickte
nach Osten.
»Was gibt es, Herr?« fragte Arne.
»Das Meer«, antwortete der Sternenmann und drehte
sich zu den beiden um. »Hört Ihr die Brandung?«
Arne und Brode schüttelten den Kopf.
»Die Brandung des Iskruel Ozeans«, erklärte Axis,
»die gegen die Eisbärküste schlägt.« Er wurde kurz von
aufkommenden Erinnerungen überwältigt und setzte sich
dann mit einem Achselzucken wieder in Bewegung.
Irgendwann am Nachmittag sahen sie die Festung, die
sich in der Ferne erhob.
»Bei den Sternen!« ächzte der Krieger. »Wie ist sie
schön!«
Ein solches Kunstwerk hatte er nicht erwartet. Natürlich wußte er, daß sein Bruder irgendwo im Norden ein
Heim haben mußte. Aber er hatte es sich stets als etwas
Düsteres und Abstoßendes vorgestellt – nicht jedoch als
funkelndes Juwel, das sich wie jemandes weiße Hand in
den Himmel streckte, der sich jauchzend aus dem Grab
erhebt. Ein gigantisches und gleichzeitig überaus anmutiges Bauwerk. Die Sonnenstrahlen brachen sich darin in
tausend verschiedenen Farben.
»Die Eisfestung«, brachte Brode mühsam hervor, und
Axis blickte ihn an.
Aber kurz darauf richtete sich sein Blick schon wieder
wie von selbst auf das glitzernde Gebilde im Nordosten.
Axis mußte sich eingestehen, daß es ihm selbst wohl an
der nötigen Traum- und Vorstellungskraft mangelte, ein
solches Kunstwerk zu erschaffen. Und so fragte er sich,
wie jemand, der nur aus Finsternis und Grausamkeit bestand, etwas so Schönes erbauen konnte.
»Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, bemerkte
Arne hintergründig.
»Da habt Ihr wohl recht«, murmelte der Krieger.
»Brode, fühlt Ihr Euch in der Lage weiterzugehen?«
»Bevor ich sterbe, will ich den
Weitere Kostenlose Bücher