Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
noch viel kälter an. Jedesmal,
wenn sie jetzt den Heiligen Hain verließ, verabschiedete
sie sich von ihm, als sei es das letzte Mal. Die Edle genoß jeden Moment ihres Aufenthalts dort; denn sie wußte
nicht, wann, und ob überhaupt, sie ihn wiedersehen würde.
Die Nacht war vollends hereingebrochen, und Faraday
mußte sich beeilen. Sie ging auf den schwachen Schimmer des Feuerscheins zu, den sie am Horizont sehen
konnte. Beim Näherkommen glaubte sie auch zu erkennen, daß Axis, Arne und Brode um jemanden herum am
Boden saßen. Loman! Ihre Finger hielten den Umhang
fester, und sie beschleunigte ihre Schritte. Der Sterbende
würde es begrüßen, wenn sie zur Stelle wäre, um ihm den
rechten Pfad zum Heiligen Hain zu weisen.
Der Wind trug ein sonderbares Flüstern heran, das in
der schneedurchwehten Nacht kaum zu verstehen war.
Faraday blieb stehen, und der Wind bauschte ihren
Umhang auf. Nein, es war nichts. Sie lief weiter.
Aber da ertönte das Geräusch schon wieder, und jetzt
hatte die Edle auch das Gefühl, jemand würde sich rechts
neben ihr sacht bewegen.
Sie blieb erneut stehen, und ihre Nerven waren so angespannt, daß sie wie Feuer brannten. Faraday strich sich
eine gelöste Haarsträhne zur Seite, strengte sämtliche
Sinne an, spähte in das Dunkel und lauschte aufmerksam.
»Faraday …« Ein kaum wahrnehmbares Flüstern.
Wieder das Flüstern, doch diesmal klang es auch nach
einem Kichern.
»Faraday?«
Die Edle sah sich nach allen Seiten um und hoffte, die
Ohren hätten ihr einen Streich gespielt.
Vor ihr brannte das Lagerfeuer, und sie sah, daß die
Männer noch immer mit Loman beschäftigt waren. Der
Sternenmann hob den Kopf und blickte zufällig in ihre
Richtung. Doch ehe sie ihn anrufen konnte, zuckte der
Aware am Boden, und Axis beugte sich wieder über ihn.
»Faraday …«
Nein, das war keine Sinnestäuschung. Die Edle schloß
die Augen und stöhnte.
»Faraday, ich bin’s, Timozel.«
Sie nahm allen Mut zusammen und schaute nach
rechts. Der Jüngling kauerte vier oder fünf Schritte von
ihr entfernt halb verborgen im Schnee. Seine Augen
glänzten, und er streckte eine Hand nach ihr aus.
Aber das war nicht der Timozel, den sie in Erinnerung
hatte.
»Helft mir … bitte!« flüsterte er.
»Timozel … geht weg!«
»Faraday, bitte, helft mir … Ihr müßt mir helfen!«
Laßt das, Timozel, tut mir das nicht an, flehte die Edle
in Gedanken. Aber das hörte der Jüngling natürlich nicht;
und wenn doch, beachtete er ihr Jammern nicht.
»Er hat mich in eine Falle gelockt, Herrin. Ich kann
mich nicht aus ihr befreien, und er zwingt mich, ihm zu
Diensten zu sein.«
»Nein!« entgegnete sie, aber sie konnte den Blick
nicht von ihm wenden. Und auch die Stimme versagte
ihr, sonst hätte sie bestimmt die Männer am Feuer zu
Hilfe gerufen. Denn die Macht der Prophezeiung lastete
wie ein großes Gewicht auf ihr. Jetzt noch etwas am Verlauf der Weissagung zu ändern, lag weit jenseits ihrer
Kräfte oder Fähigkeiten.
Das rote Reh erstarrte, erschrocken über eine Bewegung zwischen den Bäumen.
»Wißt Ihr, wann er mich einfing, Faraday?« Timozel
kroch ein Stück weit näher. »Damals am Farnbruchsee,
nachdem Yr den Zauber über mich gesprochen hatte. Ja,
genau dort. Während Ihr im Licht der Mutter badetet,
versenkte Gorgrael seine Klauen in meine Seele.«
»Nein!« rief die Edle laut und erschrocken. Nein, Mutter, laßt es bitte nicht so gewesen sein. Bitte nicht.
»Doch, genau zu jener Stunde.« Der Jüngling versuchte, so bemitleidenswert wie möglich zu klingen. »Ich bin
genauso ein Opfer wie Ihr, Faraday Deswegen müßt Ihr
mir helfen, bitte. Ich will ihm unbedingt entkommen …
ich sage die Wahrheit!«
Das Reh starrte dorthin und riß die großen Augen
noch weiter auf. Es zitterte am ganzen Leib.
»Geht weg!« murmelte Faraday, und der Wind zerrte
so sehr an ihrem Umhang, daß er ihn ihr vom Körper riß.
Der Jüngling lag jetzt fast unmittelbar vor ihren Füßen, und mit den Fingern bekam er den Saum ihres Gewandes zu fassen. »Bitte, Faraday, ich versuche, zurück
zum Licht zu finden. Helft mir, laßt mich nicht im Stich.
Ihr seid die einzige, die ich noch Freundin nennen kann.
Helft mir!«
Nein! schrie es in ihrem Kopf, aber sie bekam auch
das nicht über die Lippen. Aus den Augenwinkeln sah
die Edle den Krieger, der sich von dem Sterbenden erhob
und eine Hand vor die Augen hielt. Dann rissen sich ihre
Haare endgültig los und versperrten ihr die
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