Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
einmal verlassen hatten? Und hatte denn jemand
wirklich nachgezählt, ob solche gewaltigen Mengen von
Greifen bereitstanden?
Auf all diese Fragen konnte Dornfeder kaum Antwort
geben. Er erklärte den Alten, er glaube der Zauberin und
nehme ihre Warnung durchaus ernst. Doch etlichen Ikariern reichte diese Auskunft nicht. Schließlich verlegte
der Geschwaderführer sich darauf, die Störrischen zu
bedrohen und einzuschüchtern. Von nun an hatte er keine
Geduld mehr mit ihnen. Der junge Mann hatte Kameraden sterben sehen und selbst die Krallen der Greifen gespürt. Und nur wenn er brüllte, hörten die Vogelmenschen ihm zu. Dornfeder hatte sich einmal an der
Schwelle des Todes befunden, und diese Erfahrung verlieh ihm jetzt eine Aura, die im Verein mit seinem Zorn
alle weiteren Einwände zum Schweigen brachte und die
Zauderer überzeugte.
Mögen die Sterne ihnen beistehen, betete der Geschwaderführer, als er auf dem Dach des Krallenturms
stand und eine weitere Gruppe Ikarier losschickte. Hoffentlich lauern die Greifen nicht schon am Himmel auf
sie. Die Aufwinde waren schwarz vor Schwingen. Wenn
überhaupt, würde die große Anzahl ihren besten Schutz
darstellen. Sobald sie dann in den Bereich gelangten, in
dem das Lied des Erdbaums erklang, würden sie in Sicherheit sein.
Der junge Ikarier kehrte in den Turm zurück und trat
beiseite, um der nächsten Gruppe Platz zu machen. Die
Mitglieder seiner Staffel bewirkten wahre Wunder und
scheuchten immer neue Ikarier nach draußen. Er hoffte,
ihre Namen würden in den Sagen der Vogelmenschen
fortleben; denn ohne Zweifel retteten sie heute ihr Volk.
Doch ihm stand noch eine Aufgabe bevor, die er nur
selbst erledigen konnte.
Die Kinder. Diejenigen Ikarier, denen noch keine Flügel gewachsen oder deren Flugmuskeln sich noch nicht
so weit entwickelt hatten, um Awarinheim erreichen zu
können. Säuglinge wurden von ihren Müttern in Tragetüchern mit auf die Reise genommen. Aber die Kleinkinder
und die größeren Kinder würden laufen müssen – und
danach, wenn möglich, in einem Kahn reisen.
Zu Dornfeders Freude hielt sich die Schar der Gebrechlichen, derjenigen Erwachsenen, die für einen Flug
zu krank oder zu alt waren, sehr in Grenzen.
Der Geschwaderführer hieß die Flugunfähigen, sich in
einer der untersten Kammern des Krallenturms zu sammeln. Sobald oben alles geregelt wäre, würde er sich
selbst zu ihnen begeben und sie hinunter zu den Wasserwegen führen. Er sagte sich nämlich, daß der Fährmann
am ehesten auf jemanden hörte, der schon einmal mit
ihm gefahren war.
Aber welchen Preis würde Orr für seine Dienste verlangen?
Der Ikarier zuckte die Achseln. Damit konnte er sich
immer noch befassen, wenn es so weit war. Und das
würde noch einige Zeit dauern. Die Kinder und die Gebrechlichen kämen die vielen Stufen bestimmt wesentlich
langsamer hinunter als gesunde und erwachsene Vogelmenschen. Doch dann mußte er feststellen, daß er die
Begeisterung der Kleinen offensichtlich unterschätzt hatte.
Schließlich ließ er sich durch die Schächte bis in die
untere Kammer hinab, wo sich die Kinder und die Kranken unter der Führung von zwei Staffelmitgliedern eingefunden hatten. Dort angelangt, blieb ihm erst einmal der
Mund offenstehen. Er hatte mit einigen Dutzend Personen gerechnet, die er zum Fährmann geleiten mußte.
Doch erwarteten ihn hier sechshundert aufgeregte Kinder, die sich auf das große Abenteuer zu freuen schienen.
Selbst die wenigen Gebrechlichen hatten sich von der
guten Laune der Kleinen anstecken lassen.
Dornfeder landete sanft auf dem Boden und rief Feinauge zu sich, eine der Luftkämpferinnen. Sie bemerkte
seine Überraschung und zuckte die Achseln. »Mir erging
es vorhin ebenso, Geschwaderführer. Wer hätte gedacht,
daß der Krallenturm so viele Kinder beherbergte?«
Der junge Mann betrachtete die große Schar. »Bei den
Sternen, was wird der Fährmann wohl dazu sagen?«
Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als sie nach unten
zu führen. Er schickte die beiden Luftkämpfer zurück
nach oben, um die Erwachsenen aus dem Berg zu geleiten, und gegebenenfalls nachzuhelfen, und wandte sich
dann an seine Schützlinge.
Während er sich räusperte, wurde ihm klar, daß er
nicht wußte, was er ihnen sagen sollte. Dornfeder besaß
nicht sehr viel Erfahrung im Umgang mit Kindern.
»Äh«, begann er wenig überzeugend, »Ihr habt Euch
sicher schon gefragt …« Nein, das war nun wirklich zu
blöd.
Ȁhem, wir werden bald
Weitere Kostenlose Bücher